Objekte der Forschung
9. März 2023
Die Verbände der Überlebenden des NS werden immer interessanter
Es ist bemerkenswert, dass mit dem biologischen Verschwinden der Zeitzeugengeneration in den KZ-Gedenkstätten und der geschichtspolitischen Erinnerungsarbeit in verschiedenen europäischen Ländern die ehemaligen Häftlinge, die Mitglieder von Überlebendenverbänden jetzt in den Fokus nachgeborener Historiker*innen geraten. Bekanntlich entstanden bereits unmittelbar nach der Befreiung vom Faschismus die ersten Organisationen der Überlebenden. Sie bildeten Amicales, Komitees, Lagergemeinschaften, nationale Interessenverbände und internationale Dachorganisationen. Es ging ihnen um einen antifaschistisch-demokratischen Neubeginn und um eine Erinnerungskultur aus der Sicht der Verfolgten.
Der zweite Aspekt steht im Fokus des Sammelbandes »Organisiertes Gedächtnis«, der neunzehn Einzelstudien umfasst, beginnend bei den nationalen Verfolgtenverbänden bis hin zu internationalen Lagerkomitees und der FIAPP (Federation internationale des anciens prisioniers politiques) bzw. später der FIR (Fédération Internationale des Résistants). Vergleichende Forschungen zu den diversen Aktivitäten von Überlebenden und ihren Organisationen sind bislang noch selten. Diese Lücke soll der Sammelband in einer transnationalen Perspektive helfen zu schließen.
Aufsätze beschäftigen sich mit der VVN und den Konkurrenzgründungen AvS (Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten) und BVN (Bund der Verfolgten des Naziregimes), den Lagergemeinschaften Sachsenhausen und Ravensbrück in Deutschland und Österreich, den Verbänden in Polen, Frankreich und den Niederlanden. Selbst das sowjetische Komitee der Kriegsveteranen wird durch die Brille der DDR-Presse beobachtet. Vier Artikel beschäftigen sich mit Opfern von Shoah und Porajmos (Völkermord an Roma), weitere Beiträge behandeln internationale Dachorganisationen.
Interessant ist die Perspektive der zumeist jüngeren Akademiker*innen. Sie betrachten – selbst wenn sie teilweise beruflich in KZ-Gedenkstätten beschäftigt sind – die Verbände, also ihren »Untersuchungsgegenstand«, tatsächlich »von außen«. Die zentrale Quelle für die Aufarbeitung bilden schriftliche Überlieferungen, Verbandszeitschriften, teilweise Korrespondenz und administrative Aufzeichnungen, die in den jeweiligen Gedenkstätten archiviert wurden. Doch dürfte es jedem, der länger in diesem Bereich tätig war, klar sein, dass mit solchen »gedruckten Quellen« nur ein Teil der Realität der Arbeit der Verfolgtenverbände abgebildet werden kann. Was macht man aber, wenn die Zeitzeugen, die diese Arbeit über viele Jahrzehnte getragen haben, nicht mehr ansprechbar sind? Dann sollte man sich mit den Organisationen, die zumeist bis heute existieren, bzw. ihren geschichtspolitischen Nachfolgeeinrichtungen in Verbindung setzen und das dort vorhandene Wissen nutzen.
Wo das geschehen ist, wie bei dem Aufsatz von Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr über die österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück, wird die geschichtspolitische Arbeit in ihrer ganzen Komplexität zwischen Erinnerungspolitik und Feminismus lebendig. In anderen Aufsätzen hatte man das Gefühl, dass die Nachwuchswissenschaftler ihrem Forschungsgegenstand deutlich distanzierter gegenüberstanden.
Schwierig wird es, wenn heutige Perspektiven auf die 1950er-Jahre, die politische Entwicklung von Kaltem Krieg und Stalinismus und gleichzeitig das Scheitern des sozialistischen Versuchs in verschiedenen osteuropäischen Ländern, Wertungen und Interpretationen des Handelns der damaligen Akteure deutlich beeinflussen, was besonders in dem Aufsatz von Zofia Wóycicka über »das veränderte Bild ehemaliger Häftlinge der Konzentrationslager und die Stalinisierung der polnischen Erinnerung« sichtbar wird. Es wäre sicherlich lohnend, die damalige Entwicklung mit der gegenwärtigen geschichtspolitischen Kehrtwende im »nationalen Gedächtnis Polens« zu vergleichen.
Etwas aus dem historischen Rahmen fällt der Aufsatz von Daniela Gress über Sinti und Roma als Akteure in der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Sie zeigt, in welchem Umfang die faschistischen Feindbilder sich in das bundesdeutsche Narrativ hinüber retteten. Während die VVN sich für die Anerkennung dieses Verfolgungsschicksals einsetzte, waren die staatlichen Entschädigungsstellen restriktiver. Erst in den 1970er-Jahren gelang es der Gruppe der Sinti und Roma, unterstützt durch europäische Netzwerke, einen Gedenkstein in Auschwitz-Birkenau zur Erinnerung an den Porajmos errichten zu lassen. Und in der Bundesrepublik dauerte es noch einmal bis Anfang der 1980er-Jahre, bis mit Helmut Schmidt ein Bundeskanzler im Namen der Bundesregierung den Tatbestand des Völkermordes anerkannte. Dass der Hungerstreik 1980 in der KZ-Gedenkstätte Dachau für diesen politischen Schritt in dem Aufsatz nur als Fußnote erscheint, verdeutlicht, wie schwierig es für Nachgeborene ist, sich die gesellschaftliche Wirkung solcher Aktionen vorzustellen, wenn sie sich nicht in den gedruckten Quellen wiederfinden. Diese Hungerstreikaktion war ein anschauliches Beispiel dafür, wie der geschichtspolitische Umgang mit der Erinnerung vom Handeln der Überlebenden und ihren Nachfolgern selber abhängig war.