Divers aufstellen
9. März 2023
Interview zur Erinnerungskultur in der postmigrantischen Gesellschaft
antifa: Rassismus ist ein Problem, das die gesamte Gesellschaft durchzieht. Auch Erinnerungskultur und Gedenken sind davon nicht immer ausgenommen. Wie nimmst du das in deinem politischen Alltag wahr?
Denise: Rassismus gibt es auch bei Gedenkveranstaltungen. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung hier in Frankfurt anlässlich des 9. Novembers, als ich der Einladung einer lokalen Erinnerungsinitiative gefolgt bin und von einer Person weggeschickt wurde, weil sie meinte, ich sei Muslima und hätte dort nichts zu suchen. Auf meine Frage, wie sie darauf komme, meinte sie »Ja, das sieht man ja!« und unterstellte mir Antisemitismus. Da kamen mehrere Aspekte von Stigmatisierung und Diskriminierung zusammen, insbesondere der antimuslimische Rassismus. Kürzlich gab es bei den Protesten gegen die Querdenker einen Vorfall. Dieses Mal traf es eine Freundin von mir. Sie ist Muslima und trägt ein Kopftuch. Sie ist politisch sehr aktiv und seit kurzem Mitglied bei uns. Sie war stolz, weil sie zum ersten Mal die VVN-BdA-Fahne trug. Doch aus dem Gegenprotest heraus, also von unseren Leuten, wurde ihr gesagt: »Was hast du denn mit der VVN zu tun? Warum trägst du die Fahne?« Wir haben entgegnet, dass das eine unverschämte Frage ist, und mir war wichtig zu ergänzen: »Die VVN-BdA ist vielleicht in deinem Blickwinkel eine rein deutsche und weiße Vereinigung. Nur: Wir sind nur deshalb 75 Jahre alt geworden, weil wir uns verändert haben.«
antifa: Wie sollten Erinnerung und Gedenken in einer postnazistischen Gesellschaft, die ganz wesentlich durch Migration geprägt ist, aussehen, und was braucht es dafür?
Denise: Die Öffnung dafür muss in den Köpfen der Menschen erst mal erarbeitet werden. Wir werden oft nicht ernst genommen. Uns wird das Wissen um die Geschichte und die Erfahrung in der Gedenkarbeit abgesprochen. Meine Freund*innen mit jüdischem Glauben wiederum berichten, dass ihnen oft Allwissenheit unterstellt wird. Die Vielschichtigkeit von Menschen wird nicht gesehen. Auf das »Opfer sein« reduziert zu werden – das ist eine Erfahrung, die antisemitisch und rassistisch ausgegrenzte Menschen verbindet.
antifa: Was könnten wir konkret tun, um Gedenken inklusiver zu gestalten?
Denise: Als Antifaschist*in sollte man darauf achten, dass man migrantische Akteure nicht erst einlädt, wenn die Veranstaltung schon steht. Es beginnt damit, dass unsere Forderungen und Sichtweisen nicht nur wahrgenommen, sondern auch respektiert werden – und zwar nicht nur zu Rassismus, sondern auch zu anderen gesellschaftlichen Themen. Das Ziel muss sein, dass Menschen mit Migrationsgeschichte auf allen Ebenen mitgestalten – und zwar auf Augenhöhe. Wir sind auch Teil der deutschen Geschichte. Sicher betrifft uns das auf andere Weise als manch weiße deutsche Täternachfahr*in, aber es betrifft uns, und wir sind damit aufgewachsen. Die Generation unserer Eltern ist in der Nachkriegszeit sozialisiert worden. Man kann Menschen ihren persönlichen Bezug zur NS-Geschichte nicht ansehen. Gerade die Themen der Gedenkarbeit sind gut geeignet, um unterschiedliche Sichtweisen zu verknüpfen. In Frankfurt am Main fragte die DIDF-Jugend uns als VVN-BdA, ob wir beim »Bündnis Gedenken Hanau 19.02 – Ffm« für die Opfer des Anschlags von Hanau dabei sein wollen. Auf meine Frage »Wieso ist euch das so wichtig?« wurde mir geantwortet: Weil ihr eine so lange Erfahrung und große politische Klarheit habt, im Umgang mit dem »Opfer«-sein, im Gedenken und im Kampf um das Gedenken. Mir ist wichtig, dass wir die Würde der Opfer des Faschismus weitertragen, in die Gesellschaft, in der wir heute leben. Das ist eine Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen.
antifa: Du lebst in Frankfurt. Wie bist du zur VVN-BdA gekommen?
Denise: Ich war seit meiner Jugend in antifaschistischen Gruppen aktiv und bin vor einigen Jahren in die VVN-BdA eingetreten. Hier habe ich Menschen gefunden, die mein Interesse an Geschichte und meine politische Grundüberzeugung teilen. Meine Großmutter war Jüdin und musste aus Österreich vor den Nazis nach Südamerika fliehen. Doch noch prägender als dieser familiäre Hintergrund war für mich die Tatsache, dass ich seit frühester Kindheit Rassismus erleben musste. Meine Familie wurde massiv von Neonazis bedroht, unser Haus wurde angegriffen. Damals machte ich die Erfahrung, dass die Polizei uns nicht schützte, sondern meinem Vater Drogengeschäfte unterstellte. Meiner Großmutter durften wir nichts sagen, obwohl wir darüber nachdachten auszuwandern, weil die Situation so bedrohlich war. Auch wenn die VVN-BdA, in die ich eingetreten bin, eine sehr weiße Gruppe war, habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich ernst genommen wurde und aktiv beteiligt bin. Dass migrantische Gruppen in die Gedenkarbeit einbezogen werden, war aber keine Selbstverständlichkeit. Das war und ist viel Arbeit. Das Thema wird ganz gerne mal aufgeschoben. Daran müssen wir noch dringend arbeiten.
Hanau-Gedenken am 19. Februar in Frankfurt/Main, selbstverständlich mit migrantischen Organisationen wie der Föderation der Demokratischen Arbeitervereine (türkisch: Demokratik İşçi Dernekleri Federasyonu, DIDF)
Denise Torres ist Mitglied im Bundessprecher*innenkreis der VVN-BdA und in der Kreisvereinigung Frankfurt am Main aktiv.
Das Interview führte Maxi Schneider