»Unbewohntes« Land?
11. Juli 2023
50 Jahre nach dem Putsch in Chile: Mapuche, deutsche Kolonisten und Landreform
Wer in Chile im »Kleinen Süden« zwischen Concepcion und Puerto Montt unterwegs ist, findet in Bäckereien und Cafés »Kuchenes« und »Strudel«, sieht in nahezu jeder Stadt eine »Deutsche Schule«, gelegentlich ein »Deutsches Haus« mit deutschtümelnder Gedenktafel und natürlich: »Kunstmann«-Bier. Als der »deutscheste aller chilenischen Orte« und zugleich eine der »idyllischsten Siedlungen Chiles« gilt Frutillar am Westufer des Lago Llanquihue. Der Name des Sees weist darauf hin, wo man sich befindet: in Wallmapu, dem Land der Mapuche, in deren Sprache Mapudungun »llanquyn-we« einen Ort bezeichnet, an dem man »ins Wasser eintauchen« kann.
Es ist kein Zufall, dass die meisten der rund 500.000 Deutsch-Chilenen im Land und auf dem Land der Mapuche leben und es ist auch kein Zufall, dass ihre »idyllischen« Häuser vom Wohlstand der Bewohner zeugen, während die oft windschiefen Behausungen der Mapuche zwischen Puerto Montt und Valdivia auf äußerste Armut schließen lassen.
Recht auf ein Territorium
Die Mapuche sind die einzige vorkoloniale Bevölkerung beider Amerikas, die ihr Land erfolgreich gegen Eindringlinge verteidigen konnte. Sie hatten schon das Vordringen der Inkas in den chilenischen Süden verhindert und den spanischen Konquistadoren in Jahrhunderten der Kämpfe 36 Verträge abgerungen, die ihnen das Recht auf ein Territorium von zehn Millionen Hektar südlich des Flusses -Biobio garantierten und von den Spaniern respektiert wurden.
Die ab 1810 entstandene unabhängige Republik Chile tat das nicht. Sie beanspruchte das Land der Mapuche, die kein Privateigentum an Land kannten und deshalb auch keine privaten Besitzrechte nachweisen konnten, und betrachtete es als »unbewohnt«. Das chilenische Militär marschierte in das Mapuche-Gebiet ein, massakrierte in einem 70jährigen Krieg Tausende und vertrieb eine große Zahl der Familien von ihrem Land. 1852 erließ die Regierung ein Gesetz, das lautete: »Die Territorien der Mapuche müssen vom Staat Chile annektiert werden.« Ein Jahr später regelte ein Dekret den Verkauf indigenen Landes an Privatpersonen. Zehn Jahre später wurden die Mapuche in Reservate umgesiedelt, nur 500.000 Hektar waren ihnen geblieben.
Wer aber sollte das Land, von dem die ursprünglichen Bewohner vertrieben waren, nun »urbar« machen? Schon 1845 war mit einem »Gesetz zur Steuerung der Einwanderung« die Grundlage für die gezielte Besiedlung des Mapuche-Territoriums geschaffen worden. Nach der gescheiterten Deutschen Revolution von 1848/49 reiste der preußische Seemann, Naturaliensammler und Erkundungsreisende Bernhard Philippi dann als Kolonisationsbeauftragter nach Deutschland, um dort Auswanderer als Kolonisten für die Ansiedlung rund um den Lago Llanquihue zu gewinnen. Die chilenische Regierung bot Überfahrt, Land und Steuerfreiheit, und schon drei Jahre später hatten sich 600 deutsche Familien angesiedelt, bis Mitte der 1870er-Jahre waren es 6.000.
Sie konnten das von den Mapuche geraubte Land ersteigern, oft wurde das Land aber auch durch kriminelle Machenschaften erworben, zum Beispiel indem Notare armen Indigenen, die nicht lesen und schreiben konnten, einen Peso anboten für eine Unterschrift unter ein Dokument, mit dem sie ihnen Land, das nicht ihres war, für eine angebliche Summe von mehreren tausend Pesos »verkauften«. Oft gingen auf diese Weise benachbarte Grundstücke an den gleichen Käufer und bildeten so die Grundlage für riesigen Großgrundbesitz, der die Agrarstruktur Chiles bis heute prägt.
Die Mapuche haben sich damit nie abgefunden, haben in unterschiedlichen Epochen mit unterschiedlichen Mitteln weiter um ihr Land gekämpft, das nicht nur ihre materielle Existenzgrundlage ist, sondern auch die Voraussetzung zum Erhalt und zur Weiterentwicklung ihrer Sprache und Kultur. Beides wurde durch Mission, Schule und Abwertung zurückgedrängt.
Erst mit der Regierung der Unidad Popular (siehe Marginalie, Seite 27), in deren Regierungsprogramm die Landreform ein wesentlicher Pfeiler war, erhielten die Mapuche – ebenso wie andere »pueblos originarios« in Chile – eine Chance auf Recht und Gerechtigkeit. Zwischen 1971 und 1973 organisierten sie etliche Landbesetzungen in Wallmapu, mit denen die Regierung zum schnellen Handeln gezwungen werden sollte, an vielen Orten unterstützt von Parteien der Unidad Popular oder der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR). In der Region Los Rios entstand schon 1971 eines der größten Projekte der Landreform: Der staatliche Forst- und Holzkomplex Panguipulli (Complejo Forestal y Maderero de Panguipulli, CFMP), bei dem die Arbeiter an allen Prozessen beteiligt waren, erstreckte sich zuletzt über 420.000 Hektar, die von mehr 2.000 Beschäftigten bewirtschaftet wurden. 46 von ihnen wurden innerhalb der ersten drei Monate nach dem Putsch vom 11. September 1973 umgebracht.
In Panguipulli hatten Mapuche-Gemeinschaften 1971 die Latifundien Nancul und Malchehue, die sich auf dem Land ihrer Familien widerrechtlich etabliert hatten, gemeinsam mit den Landarbeitern besetzt. Einer der Organisatoren war Humberto Manquel, damals als Sekretär des kommunalen Bauernrats und Leitungsmitglied der Mapuche-Gemeinschaft des Lof Dionisio Manquel Chepo, der die Besetzungen organisierte. Heute ist er als Oberhaupt des Lof Mitglied im Mapuche-Parlament Koz Koz und Vertreter der Region Panguipulli im Vorstand der Union ehemaliger politischer Gefangener Chiles (UNExPP).
Gegen internationale Konzerne
Die Mapuche, auf deren Territorium gewaltige Flüsse von den Anden in den Pazifik fließen, kämpfen heute gegen internationale Energiekonzerne, die Wasser- und Windkraftwerke bauen wollen, um die Salpeter-, Lithium- und Kupferindustrie, die seit dem Putsch wieder privatisiert sind, mit Strom zu versorgen. Sie kämpfen gegen die Verseuchung ihrer Flüsse und Seen durch exzessive Lachszucht, in der das 700-fache der Menge an Antibiotika und Hormonen eingesetzt wird, die in Norwegen erlaubt ist. Sie kämpfen dagegen, dass die Großgrundbesitzer legal oder illegal immer mehr Wälder abbrennen, um auf gigantischen Flächen Eukalyptus und Kiefern anzubauen – schnell wachsendes Holz, das schnell Geld bringt und das die Ökosysteme großflächig zerstört. Und sie kämpfen weiter um Land und Gerechtigkeit.
Die Rücknahme der Landreform, die Wiederherstellung der Latifundien und der Macht der Oligarchen hat viele tausend Mapuche-Familien in bitterste Armut gestürzt, so dass sie auf der Suche nach Arbeit in die großen Städte ziehen mussten. So wie die Hälfte aller 16 Millionen Chilenen in Santiago lebt, lebt dort heute mehr Mapuche als in Wallmapu, meist in den weniger bevorzugten Stadtteilen.
Pinochet wirkt weiter
Mapuche sind nicht nur in Santiago Teil der sozialen Bewegungen, die 2019 mit ihren Protesten den Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung erzwungen und an ihrer Ausarbeitung mitgewirkt haben. Die neue Verfassung wurde 2022 mit großer Mehrheit abgelehnt. Einer der Gründe dafür ist sicherlich, dass auch sämtliche Medien privatisiert sind und ihre Besitzer oft den Familien mit großen Ländereien angehören. Für diese Medien und leider auch für viele Politiker:innen sind die Mapuche, die sich nicht mit Landraub, Vertreibung und gesellschaftlicher Ausgrenzung abfinden wollen, potenzielle »Terroristen«. 33 Jahre nach dem Ende der Diktatur sind Pinochets »Antiterror«-Gesetze noch in Kraft, noch immer gilt in Wallmapu der Ausnahmezustand, mit dem eine enorme Militärpräsenz in der Region einhergeht.
Junge Mapuche-Aktivist:innen in Santiago halten dagegen. Sie stammen aus den unterschiedlichen Regionen des Wallmapu, sie tauschen Erfahrungen aus, vernetzen und organisieren sich. Sie kämpfen gegen Rassismus, für soziale Gerechtigkeit und Anerkennung des historischen Unrechts, für die Freiheit der politischen Gefangenen von heute und gegen die Straflosigkeit gegenüber der grassierenden Polizeiwillkür und -gewalt und angesichts der Morde an Mapuche, die sich an den Kämpfen beteiligen. In ihrem Logo nennen sie sich »Antifaschistischer Mapuche-Fanclub«.
Von den 1.736 enteigneten Landgütern waren 200 im Besitz von Deutsch-Chilenen. Der Putsch von 1973 und die damit verbundene Rücknahme der Landreform wurde von fast allen begrüßt, in ihrer Zeitschrift Condor wurden regelmäßig Maßnahmen der Diktatur begrüßt und Kritik aus dem Ausland zurückgewiesen. Beatriz Brinkmann, die sich als Kommunistin an der Organisierung des Widerstands gegen die Diktatur beteiligt hatte, beschreibt in ihren Erinnerungen die Stigmatisierung, der ihre politisch zurückhaltenden Eltern nach ihrer Verhaftung ausgesetzt waren.
Die Rechte im Land fühlt sich nach ihrem Sieg gegen die neue Verfassung stark und macht mobil. Ihr Kandidat José Antonio Kast, der bei der Präsidentschaftswahl 2021 unterlag, ist Deutsch-Chilene. Sein Vater war Wehrmachtsoffizier.
Regierung der Unidad Populare
Am 24. Oktober 1970 wurde Salvador Allende vom Nationalkongress zum Präsidenten gewählt. Grundlage seiner Wahl war ein breites Linksbündnis – Unidad Popular. Ziel war die Veränderung des Staates, in dem ausländische Konzerne unter frühkapitalistischen Bedingungen die Rohstoffe zum Export abbauten und Großgrundbesitzer das Land und die Macht unter sich aufteilten. Die ersten Maßnahmen zielten auf die Beendigung der bitteren Armut. Die Rechte der Arbeiter wurden gestärkt, das Gesundheitswesen reformiert, die Alphabetisierung forciert und Bildung für alle erschwinglich. Nachdem wichtige Schlüsselindustrien verstaatlicht wurden waren und die Landreform begann, verhängten die USA ein Handelsembargo und lösten damit eine Wirtschaftskrise aus, die von der Rechten im Land nach Kräften vertieft wurde. Eine wichtige Rolle spielten – neben CIA, Coca Cola und ITT – die Transportunternehmen.
Am 11. September 1973 putsche das Militär unter General Augusto Pinochet. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 400.000 Menschen, die in den Jahren der Diktatur verhaftet wurden, fast alle wurden gefoltert, Tausende wurden ermordet oder blieben »verschwunden«. Mehr als 10.000 Chilenen kamen in den 1970er-Jahren als politische Flüchtlinge in die DDR und in die BRD, etliche von ihnen nach Jahren der Haft. 1986 wollte Pinochet sich in einem Plebiszit als Präsident »bestätigen« lassen. Die Mehrheit der Chilen:innen stimmten trotz massiver Repression mit »No«. 1990 war die Diktatur endlich beendet. (ck)
Fotos: Cornelia Kerth