Die Arbeit weiterführen
11. Juli 2023
Wie Erinnerung an NS-Verbrechen weitertragen? Interview mit Gisela Plessgott
antifa: Am 16. April, dem Jahrestag der Befreiung des KZ, fand in der Gedenkstätte Buchenwald erneut das »Treffen der Nachkommen« statt. Wie hast du dieses Zusammenkommen erlebt?
Gisela: Es war ein erfolgreiches Wochenende, mit viel Beteiligung. Die meisten sind nach wie vor Nachfahren von Verfolgten, aber Interessierte waren auch eingeladen. Inhaltlich ging es um den Völkermord an den Sinti und Roma, und Frank Reuter von der Forschungsstelle Antiziganismus der Uni Heidelberg hat seine Forschungen vorgestellt. Er sprach auch über die medizintechnischen »rassebiologischen« Folterungen und Morde durch die Nazis, mit denen die behauptete Minderwertigkeit belegt werden sollte. Das hat mich so niedergeschmettert. Außerdem hatten wir wieder eine Baumpflanzaktion, und nach der Veranstaltung auf dem Appellplatz – bei der es auch in diesem Jahr sehr gute Beiträge unter anderem von Naftali Fürst (1) und Jens-Christian Wagner2 ( )gab – fand unser jährliches Gedenken am Glockenturm statt. Allerdings haben wir das große Problem, dass wir uns nicht um den Nachwuchs gekümmert haben. Es rächt sich nun, dass die Buchenwalder immer unter sich geblieben sind. Wir brauchen dringend Engagierte, die die Arbeit weiterführen.
antifa: Was hat dich selbst an der Geschichte deines Vaters besonders beeindruckt?
Gisela: Sein Bildungsweg! Und seine Vielseitigkeit. Bildung ist das Wichtigste im Leben.
Er hatte große Schwierigkeiten, eine Lehrstelle zu finden und lernte schließlich Fahrradmechaniker. Nach der Lehre war er arbeitslos. Trotzdem hat er nie aufgehört, sich weiterzubilden. Er nahm als sehr junger Mensch an den philosophischen Gesprächen der Marxistischen Arbeiterschule teil, las Hegel und andere. Und er liebte klassische Musik. Beim Arbeiter-Radio-Bund eignete er sich an, was er eigentlich lernen wollte: Elektrotechnik. Mich fasziniert der Wille dahinter.
In Buchenwald traf er alte Bekannte, die ihn in die Effektenkammer bestellten, um zu überprüfen, ob die Haftzeit seine politische Haltung beeinflusst hatte. So erfuhr er, dass es Solidarität im Lager gab. Aufgrund seiner Kenntnisse wurde er im Elektrokommando eingeschleust und als Nachrichtenübermittler Teil des organisierten Widerstands. In der Werkstatt war er auch gesundheitlich geschützt. Die, die draußen arbeiteten, hatten es viel schlimmer. Bei der Selbstbefreiung des KZ war er 31 Jahre alt. Nach Hause kommen konnte er danach nicht. Seine gesamte Familie war bei der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 ums Leben gekommen.
antifa: Du bist 1946 geboren. Welche Bedeutung hatte das Schicksal deines Vaters für dich?
Gisela: Ich bin mit den Buchenwaldern groß geworden, wie mit einer großen Familie. Als Kinder waren wir immer dabei. Ich kenne das Gelände des ehemaligen Lagers noch, bevor es die Gedenkstätte gab. 1958 war dann die Einweihung der Gedenkstätte. Bei den Jahrestagen war immer viel los. Die Kontakte unter den Buchenwaldern wurden auch über die innerdeutsche Grenze hinweg gehalten. Für mich waren das alles Onkel. Teilweise kannte ich nur die Spitznamen. Im Nachhinein ärgere ich mich, dass wir nicht mehr nachgefragt haben. Das war alles immer so selbstverständlich. Über ihre Probleme haben die Buchenwalder vor uns Kindern sowieso nicht gesprochen. Das kam, wenn sie unter sich waren. Erzählt wurde zum Beispiel, wie sie der SS ein Schnippchen schlugen. Die schwere Vergangenheit wurde nicht vor uns versteckt, aber ferngehalten. Man wollte ja auch unbeschwert als Familie leben.
antifa: Und wie gehst du heute mit deiner Familien-geschichte um?
Gisela: 1965 haben wir uns das erste Mal in der großen Runde als Kinder getroffen und das auch nach der Wende wieder aufgegriffen. Mein Vater war immer auf Achse. Die Gespräche an Schulen und die Lehrerkurse in der Gedenkstätte waren ihm sehr wichtig. Dafür ließ er schon auch mal seinen Geburtstag ausfallen. Dieses Engagement habe ich von ihm übernommen. Als Lehrerin habe ich schon früh angefangen, Fahrten nach Buchenwald zu begleiten und Zeitzeugengespräche für meine Schüler*innen organisiert. Mir war immer klar, dass ich das Erbe meines Vaters antreten werde. Er war im Vorstand der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e. V. und im Internationalen Komitee Buchenwald Dora und Kommandos (IKBD) aktiv. Ich bin 2005/2006 in die LAG eingetreten und habe meinen Vater unterstützt, der seit 2002 nicht mehr sprechen konnte. So bin ich da reingewachsen. 2007/2008 erst kam seine bestens erhaltene Häftlingsjacke aus Buchenwald zum Vorschein. Meine Mutter hatte sie all die Jahrzehnte über gepflegt und aufbewahrt. Sie hängt heute in der Ausstellung der Gedenkstätte Buchenwald. 2.455 ist seine Nummer gewesen. Ähnlich niedrig, wie die von Bruno Apitz. Sie müssen zur gleichen Zeit ins Lager gekommen sein.
Heute wird darüber diskutiert, dass die Zeitzeugen sterben und man das Gedenken anders aufstellen muss. Aber die Frage ist doch, wie anders? Es gibt noch so viele Nachkommen, die erzählen können, und so viele aufgezeichnete Zeitzeugeninterviews. Die müssen weiterhin gehört werden.
Gisela Plessgott ist aktiv in der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e. V. Diese organisiert das jährliche »Treffen der Nachkommen« in der Gedenkstätte Buchenwald. Gisela ist in der VVN-BdA, ihr Vater, Reinhold Lochmann, war Kommunist und wurde 1933 als 19-Jähriger verhaftet. In der Gestapo-Haft in Dresden wurde er übel schikaniert und verprügelt und kam von dort ins KZ Hohnstein. Nach seiner Entlassung am 1933 organisierte er als Landesvorstand des illegalen KJVD in Sachsen mit den Roten Bergsteigern Fluchten in die CSSR. Seine Truppe flog auf – vermutlich durch einen eingeschleusten Gestapo-Spitzel.1935 wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu über drei Jahren verurteilt, war er im Zuchthaus Zwickau und im Emslandlager Aschendorfermoor eingesperrt. Nach Verbüßung der Strafe kam er wieder in Gestapo-Haft nach Papenburg und von dort aus 1938 in das KZ Buchenwald.
1 Naftali Fürst ist Präsident des Inter-nationalen Komitees Buchenwald-Dora
und Kommandos
2 Prof. Dr. Jens-Christian Wagner ist Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
Das Gespräch führte Maxi Schneider