Zu welchem Preis?
13. September 2023
Türkische Kriegsverbrechen gegen Kurd:innen und Êzîd:innen mit EU-Hilfe
Bundeskanzler Olaf Scholz hofft auf eine Annäherung zwischen der EU und Ankara. Er wolle sich dafür einsetzen, dass die Beziehungen »zwischen der Türkei und der EU und der Türkei und Deutschland sich gut weiterentwickeln«, so Scholz vor wenigen Wochen bei seiner Sommerpressekonferenz in Berlin. Doch zu welchem Preis?
Knapp drei Monate nach dem vermeintlichen Wahlsieg für die rechtspopulistische und islamistische AKP verschärft die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Angriffe gegen die kurdische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (kurdisch Rojava) immens. Im ersten Halbjahr 2023 hat die Türkei 34 Drohnenangriffe in Nord- und Ostsyrien geflogen. Bei den jüngsten Attacken wurden mindestens 44 Menschen getötet und 29 weitere verletzt. Mehr als ein Viertel der Todesopfer waren Zivilist:innen. Sowohl im êzîdischen Siedlungsgebiet Şengal (Sinjar) als auch in Rojava setzt die Türkei ihre Politik der gezielten Tötung fort. In regelmäßigen Abständen werden in den besagten Gebieten gezielt hochrangige politische Funktionär:innen und Sicherheitskräfte durch türkische Drohnenangriffe getötet. Insbesondere kurdische Frauen sind Ziel der Angriffe. Der türkische Drohnenterror in Nord- und Ostsyrien setzt historische Maßstäbe, es handelt sich um Kriegsverbrechen einer neuen Dimension – doch etablierte Straflosigkeit und deutscher Beifall haben eine lange Tradition.
Wasser als Kriegswaffe
Die Region Nord- und Ostsyrien ist akut von einer humanitären Krise bedroht. Während Artillerie- und Drohnenangriffe dort mittlerweile den Alltag bestimmen, fast täglich Menschenleben fordern und Lebensgrundlagen zerstören, bleibt der von der internationalen Koalition kontrollierte Luftraum für die Türkei freies Betätigungsfeld. Um die kriegerische Eskalation im kurdischen Autonomiegebiet zu verschärfen, setzt die Türkei bei ihrem täglichen Kriegsterror gezielt überlebenswichtige Ressourcen wie Wasser als Waffe ein. Seit geraumer Zeit schneidet die Türkei die Bevölkerung von Rojava vom Wasser ab, indem sie Wasserwerke und Flüsse blockiert. Auch in der nordsyrischen Großstadt Hesekê herrscht aktuell akuter Wassermangel, denn die Türkei blockiert das Wasserwerk im besetzten Elok und bringt somit unzählige Menschen in Lebensgefahr. Dass der Einsatz von Wasser als Kriegswaffe ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, die Türkei aber ungestraft davonkommt, verwundert kaum.
Um eine alternative Wasserversorgung zu gewährleisten und die erheblichen Versorgungslücken zu schließen, schalteten sich die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und YPG/YPJ ein und verteilen Wasser in Hesekê und den umliegenden Dörfern. Internationale Reaktionen auf die Appelle der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) bleiben aus, die Folgen der türkischen Aggressionen im Gebiet werden von der Bevölkerung selbst beseitigt.
Systematischer Ökozid
Während in Rojava das Blockieren von Wasser der Türkei als Waffe dient, wurden im Cûdî-Gebirge in der nordkurdischen Provinz Şirnex (trk. Şırnak) Anfang August Waldflächen von der türkischen Armee gezielt in Brand gesetzt, um das Ökosystem zu zerstören und Lebensraum für Mensch und Tier unbewohnbar zu machen. Zudem sollen durch die gelegten Brände die Rückzugsmöglichkeiten der kurdischen Guerilla eingeschränkt werden. Der Ökozid ist ein bekanntes Kriegsinstrument der Türkei in Kurdistan und hat eine lange Tradition. Durch gezielte ökologische Kriegsführung soll die Lebensqualität im Gebiet drastisch gesenkt und ein künftiges Leben in Kurdistan unmöglich gemacht werden. Mit der Zerstörung der Natur will das türkische Militär nicht nur langfristige ökologische Schäden anrichten, sondern auch ökonomische Krisen herbeiführen und die Selbstversorgung der Bevölkerung blockieren.
Völkerrecht macht Halt an Grenzen Kurdistans
Das 1945 in Kraft getretene Völkerrecht soll den internationalen Frieden sichern und verhängt ein klares Verbot für Angriffskriege. Die regelmäßigen tödlichen Luftangriffe der Türkei in Kurdistan sowie die Bombardierung ziviler Siedlungen, Krankenhäuser und Schulen erfüllen jedoch eindeutig den Tatbestand des Kriegsverbrechens. Klare Verstöße ohne Konsequenzen. Dass die Türkei bei ihren regelmäßigen Angriffen auf Guerillastellungen in Südkurdistan (Nordirak) international geächtete Chemiewaffen und Streumunition einsetzt, ist bekannt. Bekannt ist aber auch der praktische Ausschluss Kurdistans aus dem Schutzbereich des Völkerrechts. Für die Bevölkerung Kurdistans bedeutet dies, permanenter Lebensgefahr ausgesetzt zu sein, zwischen Flucht und Widerstand wählen zu müssen und sich nicht auf internationales Recht berufen zu können. Ein Zustand, der die politische Gewalt in Kurdistan legitimiert und Gleichgültigkeit gegenüber den schweren Grund- und Menschenrechtsverletzungen gegen Kurd:innen etablieren soll.
Der Autor ist aktiv beim Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit.
Das Festhalten am NATO-Partner Türkei hat eine Politik etabliert, die über Leichen geht. Es ist nicht zu übersehen, dass die Türkei bei ihren Verbrechen in Kurdistan maßgeblich von europäischen Staaten unterstützt wird. Diese Unterstützung widerspricht jedoch faktisch jedem Ansatz, den Frieden in der Region zu stabilisieren, Menschenrechte zu wahren und nachhaltige Sicherheit vor dem IS-Terror zu gewährleisten. Während die altbekannte deutsch-türkische Kriegsallianz maßgeblich zur Destabilisierung der Region beiträgt und für zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich ist, tauscht Schweden, einer der vermeintlich demokratischsten Staaten Europas, die Entrechtung der Kurd:innen im eigenen Land gegen den NATO-Beitritt.
So verlockend ist sie, die Komplizenschaft zugunsten militärischer und politischer Interessen.