Gegen den Tod und für das Leben!
5. November 2023
Shahar Tzemach: Sagt seinen Namen, wie die der vielen weiteren, damit sie nicht vergessen werden
Shahar Tzemach, 39 Jahre alt, ist einer der 1.200 Israelis, die am 7. Oktober 2023 ermordet wurden. Er war Mitglied der israelischen Menschenrechtsorganisation »Breaking the Silence«. Er berichtete über das, was er während seines Militärdienstes gesehen hatte, schulte andere Aktivist*innen und führte Führungen zum Beispiel in Hebron durch, die so vielen die Augen für die Auswirkungen der Besatzung öffneten. Er wurde zu einem Helden wider Willen. Er fiel im Kampf und verteidigte die Menschen im Kibbuz Be’eri, in dem er lebte. Er kämpfte sieben Stunden, bis ihm die Munition ausging und er erschossen wurde.
Shahar Tzemach, 39, aus dem Kibbuz Be’eri.
Bei dem antisemitischen Pogrom im Süden von Israel im Grenzgebiet zum Gazastreifen sind neben hunderten anderen auch Holocaust-Überlebende getötet worden. Als Antifaschist*innen müssen wir parteiisch sein, empathisch und mitfühlend. Aber warum fällt das seit dem 7. Oktober 2023 schon wieder so schwer, wenn es um Israel geht? Dem Staat der Überlebenden der Shoah und der Nachfahren der Überlebenden der Pogrome der vergangenen Jahrhunderte, dem Staat derjenigen, die aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens in den 1950er- und 1960er-Jahren und bis heute vertrieben wurden und werden, zum Beispiel aus den uralten jüdischen Vierteln von Damaskus oder Bagdad? Und warum müssen auch linke und antifaschistische Stimmen jetzt, nachdem die gut organisierten Kassam-Brigaden der islamistischen Hamas und weiterer solcher Terrorgruppen mit einer unfassbaren Blutorgie ein Pogrom an Jüdinnen und Juden sowie Menschen, die mit ihnen zusammenleben, verübten, den jüdischen Staat, seine Regierung, seine Armee, seine aufgebrachten, leidenden, zutiefst verletzten Menschen reflexartig zur »Vernunft« rufen, wohl wissend, dass gleichlautende Appelle an die Hamas nicht fruchten werden?
Wo bleibt die Trauer?
Wo bleibt das Entsetzen über die existenzielle Bedrohung des Staates Israel, die Wut über die Antisemit*innen, und wo bleibt die Trauer für die ermordeten Menschen in Israel? Wo bleiben die linken antifaschistischen Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Hamas und damit auch für die Menschen in Gaza? Warum wird das fürchterliche Dilemma, dass Israel sich gegen seine Feinde mit militärischer Gewalt verteidigen muss – wie sonst sollen die Attacken der Hamas im Moment denn gestoppt werden – und dabei unschuldige Menschen in Gaza sterben, ausschließlich Israel angelastet?
Eine sehr sympathische Aktion in Solidarität mit den angegriffenen Menschen in Israel sowie den Jüdinnen und Juden hierzulande kam von den Fans und Ultras von Chemie Leipzig. »Peace for the people in Israel – Free Palestine from Hamas – Stop terrorism and fascism – Freedom for all people« war auf riesigen Transparenten beim Spiel gegen die Eintracht auf den Rängen zu sehen. So eindeutig, selbstverständlich und von Herzen kommend kann das sein. Das löst keinen Konflikt, erklärt nicht die Welt, aber drückt Anteilnahme und Nähe aus. Notwendig, angemessen und gut sind die Solidaritätsmahnwachen vor Synagogen, die Teilnahme an Mahnwachen für die ermordeten Menschen in Israel und zur Befreiung der Geiseln in Gaza. Es ist unerlässlich, die hierzulande lebenden Jüdinnen und Juden unmissverständlich solidarisch zu unterstützen. Dem steht unsere tiefe Anteilnahme an den Leiden der Bevölkerung in Gaza nicht entgegen. Aber es ist anmaßend, in dieser Situation der Trauer, Angst und auch Wut das antisemitische Morden der Hamas dazu zu benutzen, mit der israelischen Politik abzurechnen und »Kontextualisierung« zu fordern. Geradezu erbärmlich ist es aber auch, wenn aktuell versucht wird, die Angst vor antisemitischen Übergriffen zu instrumentalisieren und in Deutschland der AfD in der Hetze gegen Migrant*innen das Wasser zu reichen. Antisemitismus lässt sich nicht abschieben und Rassismus ist keine Solidarität.
Versöhnung und Frieden
Auch in Israels Gesellschaft gibt es zahlreiche Initiativen und Menschen, die gerade jetzt für Versöhnung und Frieden kämpfen, Brücken bauen, den Nationalismus in der israelischen und palästinensischen Gesellschaft und daraus resultierende Menschenrechtsverletzungen scharf kritisieren. Hier arbeiten jüdische Israelis mit arabischen Israelis, mit Menschen aus der besetzten Westbank zusammen, da sind gegenseitige Anerkennung des Leids und der verschiedenen Erfahrungen in Gesellschaft und Alltag Grundlage. Die rechte Regierung Netanjahus wurde auf den allwöchentlichen Demos der Demokratiebewegung, bei denen oft bis zu 100.000 Demonstrant*innen auf die Straße gingen, stark unter Druck gesetzt. Die Proteste haben einen sehr weitgehenden, andauernden demokratischen Prozess in Gang gesetzt. Dieser Prozess ist im Moment durch die Terrorattacken der Hamas und ihrer Anhänger*innen unterbrochen worden. Aber gerade die verzweifelte Sorge um die israelischen Geiseln in den Händen der Hamas treibt die Diskussion in Israel und der Diaspora weiter. Die Angehörigen und Freund*innen der Entführten nehmen das Vorgehen der Regierung, die Diskussionen in der israelischen Gesellschaft und der Welt scharf ins Auge. Da sollten wir zuhören – und nicht immer gleich Bescheid wissen.