Diskriminierung zementiert
11. Januar 2024
Buch zum Völkermord an den Sinti und Roma und dem langen Weg der Anerkennung 1949–1990
Charlie Chaplin und Marianne Rosenberg – sie waren Stars beim Film beziehungsweise in der Schlagerwelt. Über ihre Herkunft haben sie aber während ihrer Karriere nicht öffentlich gesprochen. Aus gutem Grund, denn die Vorurteile gegenüber Sinti und Roma sind nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland nicht geringer geworden, sondern über Jahrzehnte erhalten worden. Sie reichen bis in die Neuzeit.
Dennoch hat sich etwas geändert. Das betrifft auch ein lange verschwiegenes Verbrechen – den Völkermord an den Sinti und Roma durch die Nazis mit dem rassistisch motivierten Ziel ihrer Auslöschung als ethnische Gruppe. Das Buch von Sebastian Lotto-Kusche »Der Völkermord an den Sinti und Roma und die Bundesrepublik« zeichnet den langen Weg zur Anerkennung als Naziopfer von 1949 bis 1990 nach. Das Buch schließt eine wichtige Lücke in der Opferforschung im Umgang mit einer lange vernachlässigten Opfergruppe der Nazis. Es erklärt den Paradigmenwechsel bei der Betrachtung der »NS-Zigeunerverfolgung«, wie sie lange hieß, von einem kriminalpräventiven hin zu einem genozidkritischen Denkstil.
Im Alltag nahm die Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik die überlebenden Sinti und Roma nur dann wahr, wenn sie mit ihnen im Konflikt war, insbesondere aufgrund der angespannten Wohn- und Versorgungssituation nach dem Krieg. Die Alliierten sorgten durch Anordnungen nach dem Krieg dafür, dass überlebende Sinti und Roma in den Kommunen Anspruch auf Versorgung hatten. Die Kommunen folgten dieser Order oft nur widerwillig. Fast nahtlos nutzten die Polizeibehörden die sogenannten Zigeunerakten aus der Nazizeit weiter und zementierten deren Diskriminierung.
In Köln formulierte die Polizeidienstelle 1949, dass es sich beim überwiegenden Teil dieser Personen um »asoziale Elemente« handele – eine Einschätzung, die mit der der Nazis konform ging. Am 25. Oktober 1949 nahm die »Bundeszentrale zur Bekämpfung des Landfahrerunwesens« in München ihre Arbeit auf und setzte die politische Sondererfassung der Minderheit bis in die 1970er-Jahre fort. Der kriminologische »Zigeuner«- und »Landfahrerdiskurs« blieb in seinen rassistischen Annahmen unverändert und wurde nur begrifflich zur Ebene der »Landfahrer« umgewidmet.
Beim Ringen um Anerkennung ihrer Entschädigungsansprüche, wofür Haftnachweise und der Nachweis der deutschen Staatsbürgerschaft erforderlich waren, wandten sich Sinti und Roma zunächst an das Internationale Rote Kreuz. Aber diese Ansprüche wurden von den deutschen Behörden oft abgewiesen, die von den Nazis aberkannte Staatsbürgerschaft nicht wiederhergestellt. In den 1950er-Jahren wurde der sogenannte Zigeunerdiskurs weiter durch dieselben Akteure geprägt wie in der Nazizeit. Auch im Schuldbekenntnis der Katholischen Kirche vom 23. Juli 1945 und im Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche vom Oktober 1945 tauchte die Opfergruppe nicht auf. Selbst in der DDR hatten es Sinti und Roma nicht leicht. Von 30.000 anerkannten Opfern des Faschismus (OdF) waren nur 117 »Zigeuner« und mussten besondere Anforderungen an ihre Lebensweise bezüglich Wohnung und Arbeitsplatz nachweisen, um diesen Status nicht zu verlieren.
Noch in den 1960er-Jahren griffen westdeutsche Forscher wie Hans-Joachim Döring verbreitete Vorurteile auf und behauptete, »Zigeuner« würden bei Entschädigungsanfragen die Unwahrheit sagen und aggressiv auftreten. Auf die massiven sozialen Probleme der Sinti und Roma reagierten die Börden ignorant. Mit der verdienstvollen Arbeit der Gesellschaft für bedrohte Völker änderte sich der Blick auf die Minderheit. Erst 1981 gelang auf Initiative von Herbert Wehner, Hans-Jochen Vogel und Gerhard Jahn die Errichtung eines Fonds im Umfang von 80 Millionen Euro für nicht jüdische Härtefälle unter den Naziopfern. Am 18. Juli 1981 folgte das lange geforderte Gespräch des Bundespräsidenten Karl Carstens mit Romani Rose (ab 1979 Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti, seit Februar 1982 bis heute Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma), gefolgt von einem Gespräch der Verbände der Sinti und Roma mit dem Bundeskanzler am 17. März 1982. Für dieses Gespräch war der Kanzler gebrieft worden, eine Veränderung des Pressetextes nicht zuzulassen, der die Verfolgung der Minderheit auf den Beginn des Machtantritts der Nazis verlegen sollte. Eine Anerkennung als Minderheit sollte als unerfüllbar abgelehnt werden.
Ihrer fortlaufenden Diskriminierung begegneten Sinti und Roma 1983 mit einem Hungerstreik in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, um Einsicht in die im Hamburger Staatsarchiv lagernden Landfahrerakten zu erhalten. Den langen Kampf um Anerkennung mussten Sinti- und Roma-Verbände mühsam selbst führen. Erst in den 1980er-Jahren setzte sich mit Detlev Peukert ein genozidorientierter Forschungsstil durch, der auch empirische Belege der Verfolgung und Vernichtung erbrachte. Viele halfen mit, diesem Bild Konturen zu verleihen, wie Götz Aly, Wolfgang Wippermann, Ulrich Herbert und der DDR-Forscher Reimar Gilsenbach. Im BRD-Historikerstreit der 1980er-Jahre um die Relativierung der Naziverbrechen geriet die Opfergruppe hinter den jüdischen Opfern erneut in den Schatten und wurde erst in den 90er Jahren mit der Debatte um Denkmäler für einzelne Opfergruppen gleichberechtigt anerkannt.