Wie Ungeist überdauert
2. März 2024
… und wie dem beizukommen ist. Das Essay »An den Nationalsozialismus erinnern«
In dem vorliegenden Essay stellt sich Harry Friebel der Frage, warum trotz aller Bemühungen der NS-Erinnerungskultur Elemente faschistischer Ideo-logie bis heute virulent geblieben sind. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist der Antisemitismus, welcher lange vor der NS-Herrschaft existierte, den Nazis als Begründung für die Ermordung von sechs Millionen jüdischen Menschen diente und trotz politischer Anstrengungen und Gedenkrituale bis heute fortlebt. Auch wenn Friebel in seinem Essay, das mit vielen und langen Fußnoten wie eine schwer lesbare Studie daherkommt, nicht zuspitzt, sondern einfach fragt und Forschungsergebnisse verschiedener Wissenschaftsdisziplinen darstellt, hat mich seine Sicht überrascht und inspiriert.
Unterbelichtet und unsystematisch aufgearbeitet
Der Autor geht davon aus, dass die Geschichte des Nationalsozialismus aus der subjektiven Perspektive von Opfern und Tätern zu wenig beachtet wurde: »Jedoch sind individuelle Lebensläufe und Relevanzstrukturen von subjektivem Sinn in der NS-Forschung bislang eher unterbelichtet, unsystematisch aufgearbeitet bzw. nur als Subtexte identifizierbar; anders als die Strukturen der Gesellschaft, die als offizielle Beiträge zur Geschichtsschreibung verfügbar sind.«
Vor allem aber bemängelt er, dass die Verschränkung dieser Perspektiven nicht stattfindet, denn nur, wenn Faschismus interdisziplinär unter gesellschaftlichen, sozialen und psychischen Aspekten betrachtet wird, ist er wirklich zu verstehen. Auch die Suche nach den Ursachen für die unzureichende Auseinandersetzung mit dem Faschismus findet bis heute meist auf der Ebene von Gesellschaft und Politik statt, die auch viel Material dafür bereithält. Doch wo sind die Studien, die zum Beispiel der Frage nachgehen, wie die Mischung aus Verführung, Korrumpierung und Gewalt, mit der den faschistischen Machthabern die Gleichschaltung der deutschen Bevölkerung gelang, über Generationen weiterwirkte?
Über die psychischen Folgen der NS-Herrschaft bei Angehörigen der Tätergeneration sind schon früh Untersuchungen erschienen, auf die sich Harry Friebel auch bezieht: »In ihrem Essaybuch »Die Unfähigkeit zu trauern« von 1967 diagnostizierten Marianne und Alexander Mitscherlich die Realitätsverweigerung der Täterinnengesellschaft: »Was unter einer über zwei Jahrzehnte andauernden Zensur unseres Bewusstseins nicht als schmerzliche Erinnerung eingelassen wird, kann ungebeten aus der Vergangenheit zurückkehren, denn es ist nicht ›bewältigte‹ Vergangenheit geworden …« Und Friebel erinnert auch an Klaus Theweleits »Männerphantasien«, eine psychoanalytische Deutung der Antriebe von Nazitätern, die erstmals 1977 erschienen ist und 2019, ergänzt durch ein hundertseitiges Nachwort des Autors, noch einmal aufgelegt wurde.
Bis heute aber bleibt die Frage offen, wie die Nachwirkung von Menschheitsverbrechen und ihrer ideologischen Legitimation eingedämmt werden kann. Ohne Zweifel nur in einem gestalteten Prozess politischer, sozialer und psychischer Veränderungen. Dass der politische Wille und die Nutzung staatlicher Macht dabei wichtig sind, jedoch allein nicht reichen, hat leider das Beispiel der DDR gezeigt. Erfahrungen können nicht ausgelöscht werden, sie können nur durch neue, andere Erfahrungen überschrieben werden. Bei Individuen gelingt das (manchmal) in Therapien. Doch wie therapiert man eine Gesellschaft?
Harry Friebel deutet eine Antwort auf diese Frage an. Sie geht vom tiefen Schweigen über die NS-Zeit aus, das in den meisten deutschen Familien nach dem Krieg herrschte. Viele ehemalige Wehrmachtsangehörige haben niemals über ihre Erlebnisse gesprochen. Erst die zweite und dritte Generation begann Fragen zu stellen und versuchte, Lücken in den Familiengeschichten zu schließen. Allerdings kam der Soziologe Harald Welzer in seinem 2002 erschienenen Buch »Opa war kein Nazi« zu dem Befund, dass die meisten von ihm befragten Familien eine Verstrickung ihrer Angehörigen in nationalsozialistisches Unrecht für völlig ausgeschlossen hielten.
Menschenrechtsverletzungen aufarbeiten
Solche Abwehrreaktionen können nur überwunden werden, wenn es möglich ist, offen über die gegensätzlichen Erfahrungen von Opfern und Tätern zu sprechen und sie zu reflektieren. Im kleinen Rahmen wird das inzwischen auch praktiziert. Seit einigen Jahren gibt es zum Beispiel in der Gedenkstätte Neuengamme Gesprächskreise, in denen sich ehemalige KZ-Häftlinge, Nachkommen von NS-Verfolgten und von NS-Tätern, Gedenkstättenmitarbeiterinnen und Jugendliche austauschen. Dass Ähnliches auch in großem Rahmen möglich ist, zeigen die Wahrheitskommissionen, mit denen seit den 90er Jahren in verschiedenen Ländern versucht wurde, verbrecherische Praktiken und Menschenrechtsverletzungen von gestürzten Regimen aufzuarbeiten.
Nach der Niederschlagung des Faschismus wären solche Formen der Auseinandersetzung noch undenkbar gewesen. Heute gehören sie nach Harry Friebel in die Erinnerungskultur.