Aufstieg zur Massenpartei
27. April 2024
Wie kam die NSDAP als einstige Splitterorganisation innerhalb weniger Jahre an die Macht?
Gerd Krumeich erkundet und erhellt die erstaunliche Geschichte des Aufstiegs des Nationalsozialismus von seinen Anfängen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Für den kundigen Leser ist diese Neuerscheinung eine ungemein anregende Lektüre, denn der Autor beschreibt und deutet das Umfeld, in dem die unbewältigte Niederlage von 1918 zum Aufstieg der NS-Bewegung in Deutschland führte. Er gibt Antworten auf die Frage: Wie konnte aus einer gewalttätigen Splitterpartei innerhalb weniger Jahre eine verheerende Massenbewegung werden, die Adolf Hitler an die Macht brachte?
Umwandlung in tote, öde Wüste
Hier der historische Knackpunkt: Besondere Empörung in den Friedensbedingungen lösten die sogenannten Ehrparagrafen 227 bis 230 aus, die es den Alliierten erlaubten, den Kaiser und führende Generäle der Deutschen wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen. Leider erwähnt der Autor mit keiner Silbe die sogenannte Alberichbewegung vom Frühjahr 1917 an der Westfront, hinter der sich die Umwandlung eines etwa 1.800 Quadratkilometer umfassenden Geländestreifens in eine tote, öde Wüste bei gleichzeitigem Abtransport der Bewohner dieses Gebiets verbarg, sowie im Herbst 1918, wenige Wochen vor Ende des Kriegs, die Flutung von Kohlebergwerken und planmäßige Zerstörung von Industrieanlagen, Bahnverbindungen und Obstplantagen. Hierfür trugen Hindenburg und Ludendorff die Verantwortung. Es war diese Politik der »verbrannten Erde« beim Rückzug der deutschen Armee in den Jahren 1917 und 1918 in Frankreich sowie in Belgien, die zu den »Kriegsverbrechens«-Paragrafen 227 bis 230 des Versailler Vertrags führte.
Aufschlussreich ist die Debatte über die »Juden im Heere«. Ein Unterausschuss, zu dem auch der Militärexperte Hermann von Kuhl (1856–1958) gehörte, befasste sich mit den »Ursachen des deutschen Zusammenbruchs«. Krumeich erwähnt nicht, dass dieser preußische General zu den Durchhaltekriegern des Ersten Weltkrieges gehörte. Ohne das Zerbröckeln der Moral in der Heimat, so dessen Überzeugung, und ohne die Unterminierung des Heeres durch »linksradikale Elemente« hätte die Armee noch mindestens den Winter über weiterkämpfen können. Von Kuhl glaubte an Adolf Hitler als einen Kämpfer für Deutschlands alte Macht und Herrlichkeit: »Eine neue, kraftvolle Zeit ist angebrochen. Die mächtige nationalsozialistische Bewegung hat die Spukgestalten der internationalen Marxisten, der demütigen Erfüllungspolitiker, der wehrfeindlichen Pazifisten hinweggefegt. Stolz blickt der Deutsche im neuen nationalsozialistischen Reich auf die Großtaten des Weltkriegs, vertrauensvoll schaut er in die Zukunft.« Am Bundeswehr-Standort Koblenz wird von Kuhl heute noch öffentlich geehrt; denn in der dortigen Von-Kuhl-Straße residiert der Standortälteste.
Frage des Rezensenten: Warum werden diese völkisch-reaktionären Restbestände von Autor Krumeich übergangen?
Das Volksbegehren gegen den Young-Plan (1929) gilt als ein entscheidender Moment für den Aufstieg des NS zur Massenpartei. Es ging um die »Kriegsschuldfrage« – in Hitlers Diktion um die »Kriegsschuldlüge« – und um den Protest gegen den »Schandfrieden«. Seinerzeit widerstand Hindenburg allen Versuchen, ihn ins Anti-Young-Lager zu ziehen. Erst ein paar Jahre später wird Hindenburg zum Steigbügelhalter Hitlers und zum Totengräber der Weimarer Republik.
Kampf um Namen »Hindenburg-Kaserne«
Bei der Einweihung des Tannenberg-Denkmals im September 1927 hielt Hindenburg fest: »Reinen Herzens sind wir zur Verteidigung des Vaterlandes ausgezogen und mit reinen Händen hat das deutsche Heer das Schwert geführt.« Hindenburg sprach von den »Zeugen deutschen Heldentums«, von jenen, die von der »Liebe und Treue zum Vaterland beseelt und denen die deutsche Ehre über alles geht«. Am 2. August 1934 wurde Hindenburg im dortigen »Reichsehrenmal« Tannenberg beigesetzt. Seit gut zehn Jahren führt die Bundeswehr einen hinhaltenden Abwehrkampf, um die Namensgebung »Hindenburg-Kaserne« in Munster über die Runden zu retten. Doch auch davon keine Silbe bei Krumeich.
In Städten wie Augsburg, Erlangen, Freiburg, Münster und Bonn gibt es weiterhin Langemarck-Straßen. In der Garnisonsstadt Koblenz gab es eine Kaserne am Langemarck-Platz (im Volksmund »Langemarck-Kaserne«). Hitler selbst präsentierte sich in »Mein Kampf« als Langemarck-Kämpfer: »… und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!« Am Tag von Langemarck 1932 wurde der dortige Soldatenfriedhof eingeweiht – mit der Inschrift an der Friedhofsmauer: »Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen!« Schlusspunkt: Noch vor dem Waffenstillstand mit Frankreich am 22. Juni 1940 begab sich Hitler ins bereits eroberte Belgien, um auf dem Friedhof von Langemarck derer zu gedenken, die er zu Siegern gemacht hatte.