Wie Erinnerungen bewahren?
27. April 2024
Gedanken von Regina Girod vor dem Bundeskongress der VVN-BdA
Anfang März habe ich als Vizepräsidentin der FIR auf einer Frauenkonferenz der Associazione Nazionale Partigiani d’Italia (ANPI) in Mailand einen Vortrag über deutsche Frauen im antifaschistischen Widerstandskampf gehalten. Bei der Vorbereitung wurde mir bewusst, dass wir über die meisten dieser Frauen, die Forschung schätzt ihren Anteil auf zehn bis zwölf Prozent, heute nichts mehr wissen. Das hat vor allem zwei Gründe. Zum einen, weil in der männerdominierten Gesellschaft jener Zeit Frauen auch im Widerstand vor allem die Helferinnenrollen zugeschrieben wurden. Widerstandsgruppen wurden nach den Männern benannt, die sie leiteten, und sie heißen bis heute so. Und zum anderen, weil ein veränderter Blick auf widerständige Frauen erst mit der neuen Frauenbewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren aufkam. Woran aber in den vierzig Jahren zuvor nicht erinnert wurde, das blieb vergessen.
In meinem Vortrag habe ich über Frauen gesprochen, die von den Nazis hingerichtet wurden, über jene, an die Straßennamen, Gedenktafeln und Stolpersteine erinnern, aber auch über Kameradinnen, die überlebt hatten und gemeinsam mit uns seit den 1990er Jahren die Arbeit der VVN-BdA gestaltet haben. Ich habe mich gefreut, über diese Frauen, die nicht zu den unbekannten und vergessenen Widerstandskämpferinnen gehörten, berichten zu können. Doch zugleich habe ich mich gefragt, wer nach mir noch über sie sprechen wird. Mit fast siebzig Jahren gehöre ich heute zur abnehmenden Zahl jener, die noch über lebendige Erinnerungen an die Frauen und natürlich auch die Männer der VVN-Gründergeneration verfügen. Sie hätten unsere Eltern oder Großeltern sein können, und sie haben ihre Erfahrungen aus Widerstand und Verfolgung mit uns, den Jüngeren, geteilt.
Kein einfacher Prozess
Jetzt gehöre ich selbst zur Generation der Eltern oder Großeltern und weiß, dass das Weitergeben von Erfahrungen kein einfacher Prozess ist. Auch wenn es bitter für uns Alte klingt: Was wir nicht weitergeben können, wird verloren gehen, denn Erfahrungen können nur in einem wechselseitigen Prozess von Geben und Nehmen ausgetauscht werden, und Nachfolgende übernehmen nur das, was für ihren eigenen Lebensprozess Bedeutung besitzt.
Zwar sind wir in der VVN-BdA davon überzeugt, dass der Kampf gegen den Faschismus bis heute Bedeutung besitzt und seine Erinnerungen bewahrt werden müssen, schon, weil die Gefahr von Faschismus weiter existiert. Doch Erfahrungen aus Kämpfen, die 70, 80 oder gar 90 Jahre zurückliegen, können nicht ohne historischen Kontext in die Gegenwart übertragen werden. Dazu kommt, dass jede Generation aus ihrem Erleben andere Fragen an die Geschichte stellt. Nach dem Ableben der Widerstandskämpfer und Verfolgten können wir als »Zeugen der Zeugen« auch nicht einfach wiederholen, was sie uns berichtet haben. Letztlich sind es Geschichten aus unserer Sicht, die wir weitergeben. Wir haben allerdings den Vorteil, dass wir noch aus eigenem Erleben lebendig und emotional über sie sprechen können. Viele unserer »Alten« waren beeindruckende Persönlichkeiten, die ihr Leben für ihre Überzeugungen eingesetzt hatten. Nichts hatte sie brechen können, ihre Menschlichkeit hat uns Nachfolgende geprägt und motiviert. So haben sie ihre antifaschistischen Werte an uns weitergegeben. Wir müssen neue, eigene Wege dafür finden.
Nachdem in den letzten Jahren etwa 3.000 neue Mitglieder in die VVN-BdA eingetreten sind, steht vor uns die Aufgabe, auch unsere politischen Erfahrungen und unser Wissen an sie zu vermitteln. Sie sind mit unterschiedlichen Erwartungen und Möglichkeiten zu uns gekommen und bereichern die Arbeit der VVN-BdA mit neuen Impulsen. Die ist auch für die Erinnerungsarbeit wichtig und nötig. Noch können wir, die wir vor 30 Jahren die VVN erhalten und erneuert haben, das vielfältige Material, das wir seitdem in Form von Videointerviews, Büchern oder Ausstellungen über unsere Gründer, über lokalen Widerstand, über Stätten der Verfolgung oder die Ausbeutung von Zwangsarbeitern erarbeitet haben, mit ihnen teilen. Über dieses Erbe müssen wir auf Augenhöhe Erfahrungen und Erwartungen austauschen. Wir, die Alten, machen sie bekannt mit dem, was wir haben, und sie können herausfinden, was sie daran interessiert und in welcher Form man es so aufbereiten könnte, dass es aktuellen Rezeptionsgewohnheiten entspricht und vielleicht auch Menschen anspricht, die noch gar nichts über unsere Themen wissen.
Ich kann das an einem Beispiel aus meiner eigenen Arbeit illustrieren. In den 1990er Jahren fanden in den meisten Ostberliner Stadtbezirken Forschungsarbeiten zur jüdischen Regionalgeschichte statt, meist finanziert über ABM-Projekte. Ich habe damals an dem Buch »Nachbarn – Juden in Friedrichshain« mitgearbeitet, welches im Mondial-Verlag des Kulturbundes erschienen ist. Außer dem Totenbuch, das in das Gesamtberliner Totenbuch eingegangen ist, ist nichts von unseren Ergebnissen digitalisiert worden, und wenn ich das Buch heute aufschlage, wirkt es selbst auf mich nicht besonders spannend. Die vielen Informationen, die wir in akribischer Kleinarbeit zusammengetragen haben, müssten heute anders präsentiert werden. Doch es sind interessante Entdeckungen darunter, zum Beispiel die einer Familie, die in der Nazizeit eine jüdische Frau und ihren Sohn versteckt hatte. Nach unseren Recherchen wurden die Tochter und postum ihre Mutter und ihre Tante als Gerechte unter den Völkern geehrt. Niemand weiß das heute noch, außer meinem Mitautor und mir. Doch in welcher Form könnte man die Geschichte so bewahren, dass sie nicht endgültig vergessen wird? Vielleicht als Graphic Novel? Oder in einem Podcast?
Neue Formate der Vermittlung
Denn die Generation unserer Enkel bezieht ihr Wissen und ihre Informationen hauptsächlich aus elektronischen Medien, und unsere Erinnerungsarbeit muss sich darauf einstellen. Andere sind diesen Weg bereits gegangen. So betreibt das Anne-Frank-Haus seit vier Jahren einen YouTube-Kanal mit Videos über Episoden aus Anne Franks Tagebuch. Vor zwei Jahren haben der SWR und der BR zum hundertsten Geburtstag von Sophie Scholl das Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl ins Leben gerufen, das auf Instagram die letzten zehn Monate ihres Lebens nachvollzog.
Wie immer, wenn etwas Neues versucht wird, sind die Ergebnisse noch nicht perfekt, und von uns wären solche Projekte auch nicht zu leisten. Doch die VVN-BdA-Bundesorganisation und auch einige Landes- und Kreisverbände betreiben bereits eigene YouTube-Kanäle. Können wir sie nicht mit neuen Formaten auch für die Vermittlung historischer Erfahrungen nutzen? Mit den Websites »Das Jahr 1933« und »Das Jahr 1945« ist uns das mit historischem Wissen gut gelungen. Humanistische Werte aber werden in Geschichten übermittelt, die Haltungen und Überzeugungen transportieren. Wir können sie noch erzählen. Wer hilft uns, sie zu bewahren?