Kein »Bien venuta«
4. Juli 2024
Rocco Artale: Vom Arbeitsmigranten zum Ehrenbürger
Fast 13.000 sogenannte italienische Gastarbeiter wurden zu Beginn der 1960er-Jahre auf Basis eines deutschen Anwerbeabkommens mit Italien als Arbeitskräfte für die VW-Werke in der BRD rekrutiert. Es folgten tausende weitere Arbeitsmigranten, aber nur etwa 3.000 der insgesamt 34.600 Italiener blieben bis 1975 in Wolfsburg. Was war schiefgelaufen bei der Arbeitskräfteanwerbung?
Auch heute in Debatten aktuell
Darüber berichtet der ehemalige »Gastarbeiter« Rocco Artale in seiner Biografie, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Wolfsburger Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation. Die Erfahrungen, die er gesammelt hat, spielen auch in der heutigen Migrationsdebatte eine Rolle – sowohl die damaligen Fehler als auch die positiven Integrationsbestrebungen in Wolfsburg. »Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen«, kommentierte Max Frisch die Arbeitsmigration seit Beginn der 1960er-Jahre.
Tatsächlich sollte über zahlreiche Anwerbeabkommen der Bundesregierung der große Arbeitskräftebedarf der boomenden BRD-Wirtschaft gestillt werden. Man ging davon aus, dass Arbeitsmigranten eine Weile im Land bleiben, Geld verdienen und dann wieder gehen. Genau so fühlte sich Rocco Artale, als er von deutschen Ärzten in Italien nackt untersucht wurde, auf der Zugfahrt nicht wusste, in welcher Stadt er ankommen würde und dann in einer Barackensiedlung mit Zaun, Eingangskontrolle und Besuchsanmeldepflicht direkt neben dem VW-Werk landete, zwei Kilometer entfernt von der nächsten Einkaufsmöglichkeit. Die Turiner Tageszeitung La Stampa sprach seinerzeit von einem Regime der Rassentrennung, unter dem die ersten 3.200 italienischen Arbeiter des Volkswagenwerkes lebten.
Integration als Prozess
An den Scheiben der Bahnhofseingangstüren in Wolfsburg steht heute »Bien venuta« (deutsch: Willkommen), aber genau das Gefühl hatten viele »Gastarbeiter« nicht, denen dort das Denkmal eines Arbeitsmigranten gewidmet wurde, der mit Koffer und geschnürtem Paket skeptisch in die neue Welt schaut. Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitsvertrag und Wohnzuweisung waren aneinander gebunden. Wer die recht günstige Wohnsiedlung verlassen wollte, musste zunächst seine Miete im Wohnheim weiterbezahlen. Ein Wechsel der Arbeitsstelle war damals nahezu unmöglich. Die italienischen Arbeiter waren abgeschnitten von ihren Familien, von heimatlichen Ereignissen wie Festen, Geburten und Beerdigungen.
Ausschlaggebend für Veränderungen waren nicht die Bedürfnisse der damals ausschließlich männlichen Migranten, sondern der Wunsch des VW-Managements, den hohen Rückwanderungszahlen entgegenzuwirken, die den Konzern finanziell durch ständiges Neueinarbeiten belasteten. Es wurden erste betriebliche Integrationshelfer installiert. Auch die Stadt zeigte sich offen für das Thema und stellte den ersten ausländischen Integrationsbeauftragten der BRD ein. In den Prozess der Beschäftigung mit dem Thema waren Betriebsrat, IG Metall, Stadtverwaltung und das Stadtparlament involviert. Als VW-Beschäftigter, Gewerkschaftssekretär, Vize-Ortsbürgermeister seiner Wohngemeinde, Ratsherr im Stadtparlament und Gründer des Ausländerbeirats war Rocco Artale Teil einer Veränderung, die Migranten und die Stadtgesellschaft zusammen vorantrieben – trotz immerwährender Vorbehalte und Vorurteile.
Zahlreiche Begegnungen
Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass alle Beteiligten den Integrationsprozess aktiv gestalteten und MigrantInnen dabei ihre kulturelle Identität bewahren und pflegen konnten. Dafür hat sich Rocco Artale erfolgreich eingesetzt – mit der Etablierung eines italienischen Kulturzentrums, der Gründung einer deutsch-italienischen Schule in Kreuzheide, der Gründung des Abruzzen-Kulturvereins und des italienischen Sportclubs »Lupo Martini«. Er war auch Mitinitiator der Städtepartnerstadt zwischen Wolfsburg und der Provinz Pesaro und Urbino sowie des Freundschaftsvertrags mit der Stadt Popoli nach einem verheerenden Erdbeben in den Abruzzen – einer Gegend, aus der Rocco Artale und viele seiner Kollegen stammten. In Popoli engagierte sich Wolfsburg beim Neubau einer Schule. Wichtig für die Integration waren auch die zahlreichen Begegnungen zwischen Deutschen und Italienern an den beschriebenen Orten. Rocco Artale will mit seiner Biografie auch den vielen Mythen von den »Gastarbeitern« in Deutschland entgegentreten, wie vom Paradies mit bisher nicht gekanntem Luxus, und in Italien von Wolfsburg als einer Stadt, wo man schnell Geld verdienen konnte.
Das Recht auf Mitbestimmung
Nach dem Zuzug zehntausender Arbeitsmigranten nach Deutschland, kämpften deren Interessenvertretungen zusammen mit den Gewerkschaften und den Grünen jahrelang für ein kommunales Wahlrecht von Ausländern in Deutschland. Die intensiven Bemühungen scheiterten schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht. Erst der Maastrichter Vertrag von 1992 machte die Staatsbürger in der EU zu EU-Bürgern, verbunden mit der freien Wahl von Wohn- und Arbeitsort und mit dem aktiven und passiven kommunalen Wahlrecht. Abgesehen davon, dass auch andere Ausländer in Europa nicht weiter von kommunaler Mitbestimmung ausgeschlossen bleiben sollten, verweist die Einführung der EU-Bürgerschaft im 75. Jahr einer verdienstvollen Verfassung auch auf Mängel des Grundgesetzes, die bisher immer noch zu wenig diskutiert werden. Etwa das Recht auf Mitbestimmung aller Einwohner, aber auch das Recht auf Wohnen, auf Bildung oder auf gleiches Geld für gleiche Arbeit, wie der einstige DDR-Bürgerrechtler Heiko Lietz in der aktuellen Debatte betont. (aho)