Ein Gesicht geben
4. Juli 2024
Forschungsarbeit über Nürnberger NS-Zwangsarbeiterkinder und das Schicksal ihrer Mütter erschienen
Dass Kinder die Hauptleidtragenden eines Krieges sind, wird gern verdrängt. In einer exemplarischen Forschungsarbeit über Nürnberger Zwangsarbeiterkinder im Zweiten Weltkrieg und das Schicksal ihrer Mütter – und, soweit möglich, ihrer Väter – geht Gabi Müller-Ballin den Spuren von 400 Kindern nach. Die Diplompolitologin legt in diesem Buch biografische Daten von 321 Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern vor.
Zu ihnen gehören die im Titel genannten: Andreas, Sohn einer jungen Polin, das Mädchen Lubov, Tochter einer Landarbeiterin aus der Ukraine, und Baby Jacques, dessen Mutter Französin ist. Die drei Namen verweisen überdies auf die von der Wehrmacht okkupierten Länder, aus denen planmäßig Arbeitssklaven für die Industrie Nazideutschlands deportiert wurden. Quasi nebenbei erhalten wir also einen beklemmenden Eindruck von der zeitweise schier grenzenlosen Ausdehnung der Besatzung und wichtige Hinweise auf den jeweiligen Kriegsverlauf. Seit Jahrzehnten forscht die Autorin (Jahrgang 1954) über NS-Verbrechen in Nürnberg.
In gut verständlicher Form erfahren wir zunächst Orientierendes über den historischen Hintergrund wie auch über Programmatik und Gesetzgebung der NS-Rassenpolitik. Diese wurde jeweils an die Bedingungen des Angriffskrieges angepasst, nicht zuletzt an die Bedürfnisse der deutschen Kriegswirtschaft. Ab 1942 wurden Männer und Frauen insbesondere aus der besetzten Sowjetunion zu Tausenden zum »Arbeitseinsatz« verschleppt. Entsprechend der Vorgabe des 1946 als Kriegsverbrecher hingerichteten »Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz«, Fritz Sauckel, war deren Arbeitskraft »in größtem Maße« auszunutzen.
In der sehr übersichtlichen Darstellung wird im Kapitel »Start ins Leben« geschildert, unter welchen Umständen die zumeist sehr jungen Mütter ihre Kinder gebären mussten: Im »Russenlager« oder »Ostarbeiterlager«, im Durchgangslager oder gar im Frauenzuchthaus, im günstigsten Fall in der städtischen Klinik. Das Thema Schwangerschaftsabbruch kommt ebenfalls zur Sprache. Im folgenden Kapitel »Überleben« geht es um die Unterbringung der Neugeborenen, oft in provisorischen Räumen der jeweiligen Firmen bzw. in Heimen, getrennt von Mutter und Vater. Der folgende Abschnitt »Leben und Sterben« handelt auch von den »willigen Vollstreckern«, die in Totenscheinen beispielsweise geradezu zynisch »Ernährungsstörung« als Todesursache der Kinder und Säuglinge vermerkten.
Müller-Ballin legt dies mit großer Akribie in karger Sachlichkeit dar, mitunter lässt sie Betroffene, Angehörige oder direkt Beteiligte zu Wort kommen. Auszüge aus dem Schriftverkehr von Geschäftsleitungen zeigen, dass diese hin und wieder den NS-Verantwortlichen widersprachen – natürlich nur im Detail, nicht grundsätzlich. Eine Besonderheit stellt der Briefwechsel zwischen der Gestapo und der Leitung eines Frauengefängnisses wegen der Entbindung einer »deutschfeindlichen«, »kommunistischen« Hochschwangeren dar. Der horrende Arbeitskräftemangel bewahrte die Frau schließlich vor dem Konzentrationslager.
Aufgenommen sind auch Berichte von kleinen Akten des Widerstands, von Weigerung oder Auflehnung wie im Fall der Mutter von Milica. Die Serbin kam Anweisungen nicht nach – mit Erfolg. Außerdem berichtet die Autorin über Einzelbeispiele von Hilfsbereitschaft und Mitgefühl inmitten von Kälte und Ignoranz: Eine Mutter wird am Weihnachts-abend mitsamt ihrem Säugling von der Klinik auf die Straße gesetzt. Aber ihr wird großzügige Hilfe zuteil. Dem steht die bedrückende Wahrheit darüber gegenüber, wo überall Kinder von Zwangsarbeiterinnen starben, die Straßen und Orte sind im Buch aufgelistet. Vieles passierte eben nicht nur im abgeschotteten Lager, sondern mitten in der Stadt. Geschäfte, Bauernhöfe, private Haushalte verfügten ebenfalls über »ausländische Arbeitskräfte«.
Wie in einem Nachschlagewerk wird am Ende des Buches noch einmal zusammengefasst, wer alles betroffen und wer beteiligt war und nicht zuletzt, wer davon profitiert hat. Mindestens 129 Firmen waren in der Region Nutznießer von Zwangsarbeit, allen voran Nürnberger Rüstungsbetriebe wie Diehl und Siemens-Schuckert, aber auch die Süßwarenfirma Haeberlein-Metzger, AEG sowie die Lyra-Bleistiftfabrik. Einige richteten eigene Kinderheime ein. Wiedergutmachung oder Entschädigung an diese Opfer dürften die wenigsten gezahlt haben.
Bei zehn der von ihr aufgeführten Kinder gelang es der Autorin, ihre Spur nach 1945 wiederzufinden. Eines davon war der kleine Jan Alexander, den US-Soldaten begeistert mit Schokolade geradezu überschütteten. »Unser Sohn weckte bei allen gute Gefühle (…) Zeichen der Sehnsucht jedes Menschen nach seiner eigenen Familie«, erinnert sich seine Mutter Cornelia Verbaan-Lisowska.
Ihrem selbst formulierten Anliegen, den vergessenen Kindern und ihren Familien ein Gesicht zu geben, wird Gabi Müller-Ballin mehr als gerecht. Die nüchtern-wissenschaftliche Darstellung wird bereichert durch sieben berührende großformatige Schwarz-Weiß-Bilder von Kindern. Drei dieser liebevollen Illustrationen von Lisa Ott finden sich auf der fein gestalteten Titelseite der Publikation wieder.