Für die Nachwelt
4. Juli 2024
»Wichtiger als unser Leben«: Band zum Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos
Das NS-Dokumentationszentrum München hat gemeinsam mit dem in Warschau angesiedelten Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum eine Ausstellung zum Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos erstellt. In München war die Ausstellung bis Januar zu sehen, derzeit ist nicht absehbar, ob sie noch in anderen deutschen Städten Station machen wird. Zur Schau ist jedoch ein kleines Buch »Wichtiger als unser Leben« entstanden.
Geheimes Ziel
Das Buch eignet sich außergewöhnlich gut als Einführung in das Ringelblum-Archiv des Warschauer Ghettos. Emmanuel Ringelblum war ein Historiker und Pädagoge. In seinem in Jiddisch verfassten Tagebuch hatte er täglich notiert, was aus seiner Sicht im Ghetto geschehen ist und was neu ins Ghetto verschleppte Jüdinnen und Juden berichtet haben. Bereits kurz nach der Errichtung des Ghettos gründete er eine Organisation, die im Geheimen mit dem Ziel wirkte, die Ereignisse im Ghetto für die Nachwelt zu dokumentieren. Der Gruppe »Oneg Schabbat« (Freude am Sabbat) gehörten zeitweise über ein Dutzend Menschen an. Die Mitglieder der Gruppe arbeiteten in der »Jüdischen Sozialen Selbsthilfe«. Hier wurden die Hilfsleistungen für tausende jüdische Menschen organisiert. Viele der Mitglieder kannten sich bereits von früher. Sie waren in der Poale-Zion-Linkspartei oder der Yehudiyah-Schule, an der Ringelblum unterrichtete.
Als Anfang 1942 das Ghetto immer mehr Nachrichten über die Vernichtung der jüdischen Menschen erreichten, änderte die Gruppe ihren Schwerpunkt. Jetzt stand das gezielte Sammeln von Informationen über den Mord an den Juden im Vordergrund. Allein zwischen Februar und November 1942 wurden vier Berichte an die polnische Exilregierung in London gesandt.
In einem Bericht vom Juni 1942 hieß es: »Mit dem Überfall auf die Sowjetunion ist der Kette des nicht endenden jüdischen Leidens ein neues, ungeahnt schreckliches Glied hinzugefügt worden – die Ausrottung, die physische Vernichtung der Juden, denen die Deutschen die Schuld für den Ausbruch eines Krieges geben, der weitaus heftiger ist als alle früheren Konflikte« (Seite 41). Ringelblum hat gehofft, dass die internationale Politik reagiert und das Morden beendet. In sein Tagebuch notierte er am 26. Juni 1942: »Die Gruppe Oneg Schabbat hat damit eine große historische Mission erfüllt. Sie hat die Welt alarmiert, welches Schicksal wir erleiden, und vielleicht hunderttausende polnische Juden vor der Vernichtung gerettet. Letzteres wird natürlich erst die nähere Zukunft erweisen. Ich weiß nicht, wer von der Gruppe überleben wird – wem es vom Schicksal vergönnt sein wird, das gesammelte Material zu bearbeiten. Eines aber ist (…) für uns klar: Unsere Mühen und Qualen, unsere Hingabe und unser Leben in Angst sind nicht umsonst gewesen« (S. 42). Mitte Juli 1942 kam ein sogenanntes Umsiedlungskommando in das Warschauer Ghetto. Mit der »Großen Aktion« sollten alle Häftlinge aus dem Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka deportiert werden.
Um der Nachwelt die Berichte aus dem Ghetto zu überliefern, war es wichtig, sie zu verstecken. Izrael Lichtenensztejn übernahm die Aufgabe und hatte zehn Metallkisten im Keller der Schule vergraben, in der er gearbeitet hat. Zwei seiner Schüler haben ihm dabei geholfen. Einer von ihnen, Nachum Grzywacz, hatte in eine der Kisten einen Zettel gelegt, der folgende Zeilen enthielt: »Ich war einer derjenigen, die den Schatz begraben haben – die Dokumente, die die Verfolgung der Juden im nationalsozialistischen Generalgouvernement belegen. In jenen Tagen als Dutzende von Menschen aus verschiedenen Gründen umgebracht wurden, grub ich das Loch und versteckte diese Unterlagen, damit ihr etwas über das Leid und die Verzweiflung und über die von den Nazi-Tyrannen begangenen Morde erfahren könnt.« (S. 51).
Kisten mit Dokumenten vergraben
Die Gruppe hat zwar die bis dahin gesammelten Dokumente versteckt, wurde aber nicht inaktiv. Nach dem Aufstand im Januar 1943 wurden weitere Kisten mit Dokumenten vergraben, darunter waren ein gezeichneter Plan von Treblinka und ein Flugblatt, das im Januar zum Aufstand aufgerufen hatte. Bei diesem war es im Januar 1943 gelungen, die SS zurückzuschlagen und weitere geplante Deportationen zu verhindern. Am 17. April 1943 nahmen SS und Wehrmachtseinheiten furchtbare Rache. Das Ghetto sollte dem Erdboden gleichgemacht werden. Der Kampf um das Ghetto dauerte noch bis zum 16. Mai 1943.
Emanuel Ringelblum hatte zusammen mit seiner Frau im Februar 1943 das Ghetto verlassen. Er ging aber immer wieder zurück, um sich mit Mitgliedern der Gruppe zu treffen. Während des Aufstands wurde er verhaftet und in das Zwangsarbeiterlager Trawniki verschleppt. Mit Hilfe jüdischer und polnischer Untergrundorganisationen ist ihm im August 1943 die Flucht gelungen. Er ging zurück nach Warschau. Das Versteck wurde verraten und er mit 30 anderen jüdischen Menschen am 7. März 1944 hingerichtet.