»Der Satz ist mehr als eine Lüge«
4. Juli 2024
Die NS-Devise »Arbeit macht frei«. Ein Gespräch mit Nikolas Lelle
antifa: Du hast jüngst den Band »›Arbeit macht frei‹. Annäherungen an eine NS-Devise« im Berliner Verbrecher Verlag veröffentlicht. Wie entstand die Idee dazu?
Nikolas Lelle: Ich habe mich schon in meinem vorherigen Buch »Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe« mit dem Topos deutsche Arbeit und der Behauptung beschäftigt, es gäbe eine ganz besondere Beziehung von Deutschen zur Arbeit. Ich hatte mir das vor allem unter dem Gesichtspunkt angeschaut, wie das die Nazis für sich nutzten, radikalisierten und damit Politik machten. In der Beschäftigung mit diesem Buch habe ich gemerkt, dass über diese KZ-Devise »Arbeit macht frei« wenig nachgedacht wird und es kaum Veröffentlichungen dazu gibt. Diese Lücke will ich mit dem Buch schließen und eine ganz spezifische Interpretation liefern, die sagt, der Satz ist mehr als eine KZ-Devise, nämlich eine nationalsozialistische Devise.
antifa: Der Spruch »Arbeit macht frei« war bekanntermaßen eine von den Nazis an zahlreichen KZ-Toren angebrachte Parole. Du schreibst im Buch, dass diese verschiedentlich interpretiert wurde und für die Nazis auch verschiedene Adressat:innen hatte. Kannst du das bitte erläutern.
N.L.: Der Satz stand an sehr vielen verschiedenen Konzentrationslagern, und er wurde deshalb in der Forschung auch immer interpretiert als ein Satz, der für die Lager gilt, sich also an die Häftlinge dort richtet. Diese mussten ihn lesen, wenn sie nach dem Arbeitstag in ihren Arbeitskommandos durch die Tore zurückkamen. Sie wussten also, keiner kommt jemals hier durch Arbeit frei. Die KZ-Aufseher sagten das auch ganz deutlich bei der Ankunft: »Es gibt einen Weg zur Freiheit, aber der geht durch den Schornstein«. In Sachsenhausen wird das auch die Schornsteinrede genannt. Lange wurde in der Forschung herausgestellt, der Satz ist insbesondere dazu da, die Häftlinge zusätzlich zu schikanieren. Er ist also eine Lüge, zynische Schurkerei.
Das stimmt natürlich, aber der Satz bedeutet noch mehr. Er richtet sich zugleich auch an KZ-Aufseher und beispielsweise an SS-Männer in den Konzentrationslagern. Deren Arbeit sollte sie auch frei machen. In Dachau, einem KZ am Ortsrand, war er auch eine Botschaft an Anwohner:innen. Und auf diese Idee kam ich, als ich einen Artikel von Robert Ley gefunden habe, dem Leiter der Naziorganisation »Deutsche Arbeitsfront«. Er heißt: »Unsere Arbeit macht uns frei«. Der Text wurde Anfang 1943 veröffentlicht, also zu einer Zeit, in der der Satz »Arbeit macht frei« bereits an vielen KZ-Toren thronte. Er war offensichtlich also auch ein Versprechen, eine Botschaft an die deutschen Volksgenossen.
antifa: Du lässt in dem Buch ja auch sehr prominente Holocaustüberlebende darüber sprechen, wie die Parole auf sie gewirkt hat. Magst du das bitte darstellen?
N.L.: Der Satz war so omnipräsent in den Konzentrationslagern, dass natürlich auch Holocaustüberlebende sich danach Gedanken dazu gemacht haben. Sie fragten sich, warum haben die Nazis diesen Satz angebracht und was soll er bedeuten? Es gibt drei sehr prominente Überlebende, die in dem Buch zu Wort kommen. Einer ist Tibor Wohl. Er wollte in seinem Buch »Arbeit macht tot« darauf hinweisen, dass die Arbeit eben nicht frei macht, sondern vor allem den Tod bringt. Auch die beiden Shoah-Überlebenden Primo Levi und Jean Améry haben in der unmittelbaren Nachkriegszeit Texte geschrieben, in denen bereits reflektiert wird, dass dieser Satz sich immer auch beziehen sollte auf die Deutschen. Levi sagt, dass das, was diese mit diesem Satz ausdrücken wollten, die Selbstvergewisserung ist, sie seien die Herrenrasse und sie dürften andere Völker unterjochen sowie zur Arbeit zwingen. Améry interpretiert das ideologiekritisch und schreibt, die Deutschen waren unfrei, weil sie die Arbeit so sehr lieben.
antifa: Du kommst im Buch auch auf die Prägung des Arbeitsbegriffs im deutschen Kontext beziehungsweise den bürgerlichen Arbeitsfetisch zu sprechen. An welche Traditionslinien konnten die Nationalsozialisten anknüpfen?
N.L.: Die Nationalsozialisten konstituieren sich im Ausklang des Ersten Weltkriegs. 1918, 1919, 1920 treffen sie sich in München, organisieren sich als junge Partei und als junge Bewegung. Woran sie anschließen können, ist eine lange Tradition deutscher Arbeit. Es gibt seit Luther, aber insbesondere im 19. Jahrhundert, etliche Texte, die beweisen sollen, dass es so was gäbe wie »gute deutsche Arbeit«. Das sei quasi das, was die Deutschen ausmachen soll. Auf die Frage, was ist deutsch, wird im 19. Jahrhundert häufig geantwortet, dies sei eine ganz spezifische Art zu arbeiten. Dieser Topos war schon lange zutiefst antisemitisch, weil immer schon die Idee war, gegen dieses Selbstbild muss man das Feindbild vom Juden, der angeblich nur in die eigene Tasche arbeitet, stellen. An diese Form von Arbeitspolitik, von Arbeitsauffassung und von Arbeitsfetisch knüpfen die Nationalsozialisten an. Das ist nicht unbedingt immer eine extrem rechte Idee, sie wird bisweilen auch in liberalen Kreisen vertreten. So von Heinrich von Treitschke oder Gustav Freytag. Daran schließen die Nazis an und spezifizieren es: Alle sollen jetzt für die Volksgemeinschaft arbeiten, die als antisemitische und als rassistische Gemeinschaft gedacht wird.
antifa: Du schreibst auch, dass es bis heute kaum eine systematische Auseinandersetzung mit der besagten NS-Parole gibt. Wo siehst du die Gründe dafür?
N.L.: Bei der Beschäftigung mit dem NS wurde dessen Arbeitsauffassung lange ausgeklammert, weil man glaubte, das gehört nicht zum spezifisch politischen Kern. Da stand eher der Führerkult im Fokus oder die Art, wie die Partei organisiert war, beziehungsweise es ging um den Rassismus und Antisemitismus der Nazis. Was aber nicht gesehen wurde, wie eine ganz spezifische Arbeitsauffassung, die quasi in den politischen Kern hineinragt, dies alles verbindet.
Stattdessen wurde so getan, als sei Arbeit etwas Vorpolitisches, Unpolitisches und Natürliches. Etwas, das man eben so tut. Zugleich konnte man an diesen Arbeitsbegriff gut anschließen, weil die Idee von »Wir Deutschen, wir ziehen den Karren aus dem Dreck, indem wir viel arbeiten«, sich auch als Entschuldungs- und Aktivierungsnarrativ nach 1945 bestens eignete.
antifa: Das Thema hat an Aktualität nicht verloren, zuletzt machten insbesondere Äußerungen von CDU-Politikern um eine Verpflichtung zur Arbeit für Geflüchtete für 80 Cent pro Stunde oder um das Bürgergeld dies auch wieder deutlich. Sind das zutreffende historische Kontinuitäten?
N.L.: Wenn man in die Geschichte schaut, dann sieht man, dass der Topos deutscher Arbeit ein Selbstbild ist, das immer schon verbunden war mit rassistischen, antisemitischen und auch sozialchauvinistischen Fremdbildern. Es ging immer auch um einen Tritt nach unten: gegen Arme, Obdachlose, Langzeitarbeitslose; also diejenigen, die angeblich nicht mitmachen.
Wenn man jetzt in die Gegenwart blickt, dann sieht man, es gibt immer wieder auch Versuche, dieses Selbstbild zu aktualisieren. Etwa, indem behauptet wird, »wir« gehören zu einer völkischen Gemeinschaft, wie das Björn Höcke zum Beispiel nennt, die sich dadurch auszeichnet, dass »wir fleißig« sind. Das würde Thilo Sarrazin sagen, während in seinem Weltbild Muslim:innen besonders faul sein sollen. Hier sieht man eine Aktualisierung alter Ideen. Die Versuche, jetzt wieder einen Gemeinschaftsdienst zu organisieren, steht durchaus in dieser langen Tradition, auch wenn es nicht gedacht wird wie bei den Nationalsozialisten. Immer geht es aber darum, Menschen dazu zu verpflichten, mitzumachen.
Und weil die Verpflichtung zur Arbeit von Geflüchteten zur Sprache kam: Tatsächlich hat die NPD nach 2015 gefordert, dass Geflüchtete zur Zwangsarbeit herangezogen werden sollen. In der Propaganda der Partei labelte man das als gemeinnützige Arbeit. Der Artikel, in dem das gefordert wurde, war mit »gemeinnützige Arbeit macht den Kopf frei« überschrieben. Das heißt, die NPD spielte explizit mit dem »Arbeit macht frei«-Topos, um Geflüchtete, vor allem Syrer:innen, die nach 2015 gekommen sind, gewissermaßen zur Arbeit zu zwingen. Darauf komme ich auch in dem Buch zu sprechen.
Nikolas Lelle arbeitet seit 2020 bei der Amadeu-Antonio-Stiftung und beschäftigt sich vornehmlich mit Antisemitismus, der Erinnerung an den Nationalsozialismus und »deutscher Arbeit«. Zuvor promovierte er – nach einem Studium der Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main und Mainz – an der Humboldt-Universität zu Berlin in der Sozialphilosophie. 2018 gab er zusammen mit Felix Axster den Band »›Deutsche Arbeit‹. Kritische Perspektiven auf ein ideologisches Selbstbild« (Wallstein Verlag) heraus. 2022 erschien im Verbrecher Verlag seine Promotion »Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe«.
Interview: Andreas Siegmund-Schultze