Die Macht der Untätigkeit
4. Juli 2024
Staatliche Duldung rechter Hardliner als Strategie in den USA und Osteuropa
Die weitreichende Straflosigkeit, mit der rechte Hardliner neonazistischen Banden begegnen, steht im Widerspruch zu den Versprechungen von Ruhe und Ordnung, mit denen diese häufig ihre Wahlkampagnen führen. Doch lässt sich in dieser Tatenlosigkeit auch eine bewusste Strategie erahnen, Repression gegen politische Gegner und Minderheiten dort auszuüben, wo dem Staat selbst (noch) gesetzliche, gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Schranken gesetzt sind. Einige Beispiele aus der letzten Zeit lassen erahnen, worauf wir uns in Deutschland einstellen können.
Am 17. Mai 2024 wurde Daniel Perry in Austin, Texas (USA), begnadigt, seine 25-jährige Haftstrafe muss er nicht absitzen. Eine Jury hatte ihn ein Jahr zuvor wegen Mordes schuldig gesprochen. Perry hatte bei dem Versuch, sich im Juli 2020 mit seinem Auto einen Weg durch eine »Black Lives Matter«-Manifestation zu bahnen, den damals 28-jährigen Demoteilnehmer Garrett Foster in Austin erschossen. Vor Gericht rechtfertigte er die Tat damit, dass er sich von Foster bedroht gefühlt habe. Die Jury verurteilte ihn nicht zuletzt deshalb, weil er sich zuvor in sozialen Medien in rassistischen Tiraden ergangen und Gewaltfantasien gegen eben jene Demonstrant*innen zur Schau gestellt hatte. Seine Begnadigung verdankt er nun dem rechten Gouverneur und Trump-Anhänger Greg Abbott.
Der Fall erinnert an eine ganze Serie von Freisprüchen für rassistisch und faschistisch aufgepeitschte Mörder in den USA: Der damals 17-jährige Kyle Rittenhouse war im August 2020 schwer bewaffnet auf eine »Black Lives Matter«-Demo in Kenosha, Wisconsin, gefahren, um dort nach eigenen Angaben Geschäfte und Polizei vor den Demonstrant*innen zu schützen. Bei einer folgenden Konfrontation erschoss er zwei Demonstranten und verletzte einen weiteren. Und George Zimmerman wurde 2013 in einem weltweit beachteten Fall freigesprochen, nachdem er die Jury überzeugt hatte, er habe 2012 den unbewaffneten schwarzen Jugendlichen in seiner Nachbarschaft in Florida erschossen, weil er sich von diesem bedroht gefühlt hätte, weil dieser einen Kapuzenpulli trug.
Ähnliche Muster ließen sich bereits während der Formierung autoritärer und teils extrem rechter Regimes in Osteuropa beobachten: In Russland stürmten 2007 russische Neonazis ein Camp von Antifas und Umweltaktivist*innen bei Angarsk, Sibirien. Mehrere Teilnehmer*innen wurden schwer verletzt und der Aktivist Ilja Borodajenko getötet. Die russische Polizei nahm den Angriff jedoch zum Anlass für Repressionen gegen die Umwelt-NGO Baikal Ecological Wave, die das Camp mitorganisiert hatte.
In Ungarn ließ die Orbán-Regierung rechten Schlägertrupps freie Hand bei der Drangsalierung von Minderheiten. Jahrelang zogen hunderte Mitglieder extrem rechter Bürgerwehren durch Siedlungen und Dörfer von Rom*nja. Anhänger von Jobbik zündeten im Jahr 2009 bewohnte Häuser an und ermordeten wahllos insgesamt sechs Rom*nja. Erst als es Tote gab, begann die ungarische Polizei mit Ermittlungen und Festnahmen der Täter. 2011 rettete das Rote Kreuz hunderte Rom*nja aus dem Dorf Gyöngyöspata.
Umfangreich wird aktuell darüber diskutiert, welchen Schaden die AfD im Falle einer Regierungsbeteiligung anrichten könnte. Dabei liegt das Augenmerk auf der Macht der Gewaltenteilung, dem Widerstand aus Verwaltung und Beamtenschaft und dem Schutz durch das Grundgesetz. Übernimmt die AfD in Landesregierungen jedoch Innenministerien und damit die Kontrolle über Polizei und Geheimdienste, kann sie sich auch die volle Macht der Untätigkeit zunutze machen. In dieser Verantwortung hat sie weitestgehend ungehindert die Möglichkeit, polizeiliche Ressourcen umzupriorisieren. Nimmt sie sich ein Beispiel an Greg Abbot, Victor Orbán und Wladimir Putin, stehen tausende gewaltbereite Neonazis bereit, um im Schatten der Straflosigkeit die Drecksarbeit zu übernehmen.
Effektive Antworten auf solche Szenarien konnten bisher nicht gefunden werden. Rechtlich gibt es kaum Handhabe gegen das heimliche oder auch offene Wegschauen von Ermittlungsbehörden. Auch das Aufbauen von öffentlichem Druck zur Ermittlung oder Verurteilung von rechten Straftaten hat sich immer wieder als unzureichend erwiesen: So konnten auch tagelange Massendemonstrationen und eine landesweite Mediendebatte die Jury nicht davon abhalten, George Zimmerman in Florida freizusprechen. Und antifaschistischer Selbstschutz wird unter einem ultrarechten Sicherheitsapparat nur allzu schnell selbst zur Zielscheibe staatlicher Verfolgung.
Die einzig sichere Antwort ist es, die Ermittlungsbehörden gar nicht erst in die Hände von extrem Rechten fallen zu lassen.