Architekt des Holocaust
8. September 2024
Eichmann in Jerusalem: Hannah Arendts 1964 erschienenes Buch brachte eine Lawine ins Rollen
Als Banalität des Bösen charakterisierte Hannah Arendt als Reporterin beim Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961 den Tätertyp Adolf Eichmanns. Dieser habe bei der »Endlösung der Judenfrage« eine geringere Rolle gespielt, als die Anklage unterstellt habe. Die Artikelserie erschien 1963 zunächst im New Yorker, im selben Jahr als Buch in den USA und 1964 auch in deutscher Sprache. Manche sehen in der Formulierung eine Phrase, andere eine Chiffre und ein Resümee des Buches, die nur im letzten Satz des Berichtes vorkommt und erst nachträglich in den Titel und das Vorwort des Buches aufgenommen wurde.
Der SS-Obersturmführer und Leiter des Judenreferats beim Reichssicherheitshauptamt, Adolf Eichmann, war nach dem Krieg nach Argentinien geflohen, lebte dort unter dem Namen Ricardo Klement und tauschte sich in Argentinien weiter mit Nazis aus, wie Tonbandprotokolle von Gesprächen mit dem niederländischen SS-Mann Willem Sassen belegen. Der israelische Geheimdienst hatte den Staatenlosen nach Hinweisen in Argentinien aufgespürt, 1960 festgenommen und nach Israel gebracht. Dort wurde Eichmann vom März bis Dezember 1961 der Prozess gemacht. Dieser endete mit einem Todesurteil, das im Juni 1962 vollstreckt wurde. Eichmann galt als Architekt des Holocaust. Hunderte Zeugen erschienen zum Prozess, der weltweit Aufmerksamkeit erzeugte und nicht ohne Grund auch Bonner Politiker in Unruhe versetzte. Denn anders als die Israelis befürchteten, kooperierte Eichmann umfangreich und konnte auch einflussreiche deutsche Politiker mit deren Nazivergangenheit belasten.
Im Prozess ging es um die strafrechtliche Verantwortung Eichmanns für den Mord an bis zu sechs Millionen europäischen Juden, deren Deportation er maßgeblich vom Schreibtisch, aber auch vor Ort, organisiert hatte. Es ging nicht um die Geschichte der Naziherrschaft oder gar um die Geschichte des Antisemitismus, obwohl beides eine wichtige Rolle im Prozess spielte. Hannah Arendt hatte die umfangreiche Analyse des Holocaust in der Darstellung von Raul Hilberg (siehe antifa-November-/Dezemberausgabe 2023) in ihren Bericht aufgenommen, war aber zu anderen Schlussfolgerungen gekommen. Sie erkannte in Eichmann nicht das Monster, das das Gericht entlarven wollte. Es gelang nicht, Eichmann auch nur einen direkten Mord nachzuweisen. Eine Zeugenaussage, wonach Eichmann einen Jungen in Auschwitz geschlagen haben sollte, erwies sich als falsch, weil er zu diesem Zeitpunkt woanders war.
Die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt erkannte in Eichmann einen neuen Tätertyp, der bis dahin kaum im Fokus war. Eichmann war der Technokrat und Organisator, für den Gehorsam und sein eigenes Fortkommen die einzigen Motive seines Handelns waren. Eichmann war austauschbar, und das Beunruhigende sah Hannah Arendt darin, dass er wie viele erschreckend normal war. Es sei seine schiere Gedankenlosigkeit und Realitätsferne, die mehr Unheil anrichten könne als alle dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammen, kommentierte Arendt. Darin liege der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität, analysierte die Publizistin. Adolf Eichmann war nicht in der Lage, sich vorzustellen, was mit anderen ist. Eichmann wusste vom Ziel der Ermordung der Juden, er war Protokollant der Wannseekonferenz. Er zog sich im Prozess aber auf seinen spezifischen Verantwortungsbereich, auf Gehorsam zurück und lehnte die Teilhabe an der Gesamtverantwortung ab. Das Argument des Gehorsams lässt Arendt nicht gelten, denn im politischen Bereich der Erwachsenen sei Gehorsam nur ein anderes Wort für Zustimmung und Unterstützung.
Arendts Analyse stieß zunächst auf großes Unverständnis. Der Council of Jews from Germany sprach schon eine Woche nach der Veröffentlichung von einem verfälschten Geschichtsbild bei Arendt, insbesondere wegen deren Kritik an den Judenräten, denen sie trotz deren Zwangssituation eine Teilverantwortung für den Tod vieler Juden zuweist. Kritik fand auch ihr ironischer Schreibstil. Wissenschaftler und Richter im Nürnberger Prozess behaupteten, Arendt schenke Eichmanns Prahlerei Glauben und nehme ihn in Schutz. Sie spiele den Deutschen bei der Gewissenserleichterung zu, kritisierten andere. Historiker sprachen ihr die fachliche und sachliche Kompetenz ab. In einer Neuausgabe von »Eichmann in Jerusalem« erschien das Buch 1986 mit einem längeren Vorwort von Hans Mommsen. Er war Vertreter der funktionalistischen Interpretation des NS-Herrschaftssystems. Dieses könne nicht als Befehlshierarchie beschrieben werden, sondern müsse als kumulative Radikalisierung hin zur »Endlösung« verstanden werden, wobei Ressorts und Instanzen bei der Umsetzung gegenseitig miteinander konkurrierten. Mommsen stellt dabei überrascht fest, dass die Kernannahme von Arendt durch die historische Forschung bestätigt wurde.
Das größte begangene Böse sei das Böse, das von niemandem getan werde, also von menschlichen Wesen, die sich weigern, eine Person zu sein, so Arendt. Dem zu Grunde liegen die fehlende Bereitschaft und das fehlende Vermögen, sich in andere und deren Situation hineinzuversetzen. Davon ist bis heute in der Migrationsdebatte viel übrig geblieben.