Fähigkeit zu begeistern
8. September 2024
Wir erinnern an Peter Gingold (8.3.1916–29.10.2006)
Peter Gingold, geboren im Kriegsjahr 1916 in Aschaffenburg, erhielt seine persönliche und politische Prägung in seinem jüdischen Elternhaus und in der Arbeiterjugendbewegung. Als Jugendlicher erlebte er den Antisemitismus der Nazis, dagegen organisierte er sich in der Gewerkschaft und im Kommunistischen Jugendverband. Bei einer Razzia der SA im Juni 1933 festgenommen, kam er erst mit der Auflage frei, Deutschland zu verlassen. Er folgte seiner Familie, die schon im Frühjahr 1933 nach Paris emigriert war. Dort arbeitete er im deutschsprachigen antifaschistischen Pariser Tageblatt und gehörte zu den Gründern der »Freien Deutschen Jugend« (FDJ) als überparteiliche antifaschistische Jugendorganisation.
1937 Eintritt in KPD
Paris wurde prägend für sein privates und politisches Leben. 1937 trat er der KPD bei. Unter den deutschen Emigranten lernte er Ettie Stein-Haller kennen, 1940 heirateten sie in Paris.
Über sechzig Jahre waren Peter und Ettie verbunden und stützten sich gegenseitig in ihrer politischen Arbeit und Überzeugung. Wie wichtig Ettie für seine politische Arbeit war, zeigte Peter bei einer Veranstaltung in der »Alten Oper« in Frankfurt am Main im Frühjahr 2004, als er nicht von sich, sondern von der Leistung der Frauen in der französischen Résistance sprach.
In Paris bracht Ettie im Juni 1940 ihre erste Tochter Alice zur Welt. Nach deren Geburt begann sie ihre Widerstandstätigkeit als Kurierin, eine nicht ungefährliche Arbeit. Inzwischen musste Peter untertauchen, weil die Gestapo ihn verfolgte. Er schloss sich der Travail allemand (TA) an, einer Gruppe in der Résistance, die antifaschistische Aufklärung unter deutschen Soldaten leistete. Er musste erleben, dass zwei seiner Geschwister auf tragische Weise in Paris verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurden. Er selbst geriet 1943 in die Fänge der Gestapo, konnte aber auf abenteuerliche Weise entkommen. Im August 1944 nahm Peter am Aufstand zur Befreiung von Paris teil. Später war er Frontbeauftragter bei den Partisanen in Norditalien. In Turin erlebte er den 8. Mai 1945, der für ihn »das Morgenrot der Menschheit« war.
Gründer der hessischen VVN
1945 kehrte Peter mit Ettie nach Frankfurt am Main zurück, während seine Eltern und drei Geschwister in Frankreich blieben. Ettie und Peter gehörten zu den Gründern der hessischen VVN. Als Mitglied des Sekretariats der KPD musste Peter nach dem Verbot der Partei 1956 zeitweilig wieder in die Illegalität gehen. Auch nach der Legalisierung kommunistischer Arbeit durch die Neukonstituierung der DKP 1968 war für ihn die Zeit politischer Entrechtungen noch nicht vorüber. Mehrere Jahre klagte er vor Verwaltungsgerichten, bis ihm und der Familie die deutsche Staatsangehörigkeit wieder zuerkannt wurde, die 1956 aus politischen Gründen entzogen worden war. Bis dahin galt er als »Staatenloser«.
Als seine zweite Tochter Silvia Berufsverbot als Lehrerin erhielt, nutzte er seine Kontakte zu den französischen Antifaschisten. »A bas les Berufsverbote« (Nein zu den Berufsverboten!) wurde zu einer millionenfach erhobenen Forderung in den 1970er Jahren in Frankreich. In dieser Zeit engagierte er sich in der antifaschistischen Erinnerungsarbeit und gegen die Profiteure des Faschismus. Ein Beispiel dafür war sein Engagement gegen die IG Farben AG (in Abwicklung). Fast zwanzig Jahre kämpfte er auf der Straße und auf Aktionärsversammlungen darum, dass dieser Nachfolger des Kriegsverbrecherkonzerns aufgelöst und die vorhandenen Gelder den Opfern zur Verfügung gestellt werden.
Ihm eigene Bescheidenheit
In einem Artikel zu seinem 90. Geburtstag am 8. März 2006 hieß es: »Seine Fähigkeit, junge Menschen zu begeistern, ist eine seiner größten Stärken. Zahllos sind seine Termine in Schulen und Jugendgruppen, auf Kundgebungen gegen Neonazis oder zur antifaschistischen Erinnerung, als Mitglied im Bundessprecherkreis der VVN-BdA. Als er 2004 gefragt wurde, ob er sich zum Ehrenvorsitzenden der VVN-BdA wählen lassen wolle, lehnte er ab. Nicht allein aus der ihm eigenen Bescheidenheit, nein, er war darüber besorgt, er würde auf diese Weise auf das ›Altenteil‹ abgeschoben. Die Delegierten des Bundeskongresses quittierten dies mit der einstimmigen Wiederwahl zum Bundessprecher.«
Dieses hohe Ansehen in der Organisation hat auch über seinen Tod im Oktober 2006 hinaus Bestand. Das hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass seit 2009 seine Töchter Alice Czyborra und Silvia Gingold, seine Enkel Joscha und Juri sowie Ulrich Schneider mittlerweile mehr als 125 Lesungen mit der Autobiografie »Paris – Boulevard St. Martin No. 11 – ein jüdischer Antifaschist und Kommunist in der Résistance und der Bundesrepublik« bei vielen antifaschistischen Gruppen in allen Teilen der Republik durchgeführt haben. Einer Statistik zufolge wurden dabei bis heute mehr als 6.000 Besucher erreicht.
»1933 wäre verhindert worden, wenn alle Hitlergegner die Einheitsfront geschaffen hätten. Dass sie nicht zustande kam, dafür gab es für die Hitlergegner in der Generation meiner Eltern nur eine einzige Entschuldigung: Sie hatten keine Erfahrung, was Faschismus bedeutet, wenn er einmal an der Macht ist. Aber heute haben wir alle diese Erfahrung, heute muss jeder wissen, was Faschismus bedeutet. Für alle zukünftigen Generationen gibt es keine Entschuldigung mehr, wenn sie den Faschismus nicht verhindern.«
Diese eindringlichen Worte von Peter Gingold sind bis heute auf antifaschistischen Demonstrationen und Kundgebungen hören. Sie sind die Quintessenz einer politischen Überzeugung, die Peter Zeit seines Lebens als Antifaschist in politisches Handeln umgesetzt hat.
VVN-Gruppen und antifaschistische Initiativen, die Interesse an einer Lesung zu Peter Gingold haben, melden sich bitte bei der antifa-Redaktionsadresse unter antifa@vvn-bda.de.