Lichte Nebel

geschrieben von Thomas Willms

1. November 2024

Wie informiert man sich am besten über den Ukraine-Krieg?

Es ist keine einfache Aufgabe, sich über das Geschehen in einem Kriegsgebiet zu informieren, nicht einmal für die Kriegsparteien selbst. Das liegt in der Natur der Sache: Den Gegner über eigene Stärken und Schwächen zu täuschen, ohne sich dabei selbst zu täuschen, gehört von alters her zum Wesen des Krieges. Heute jedoch ist der »Informationskrieg« ein Kernelement der Kriegführung und führt zu einer Überfülle an Nachrichten, Bildern und Bewertungen auf Telegram und anderen Social-Media-Kanälen. Im Zuge des Ukraine-Krieges weicht außerdem das Informationsmonopol der kriegführenden Parteien auf. Zivilgesellschaftliche Akteure oder einfach Privatpersonen in aller Welt können heute Aufgaben übernehmen, die einmal Geheimdiensten vorbehalten gewesen sind. Geolokalisierte Handyfotos und frei verfügbare Satellitenaufnahmen dokumentieren das Geschehen in einer nie dagewesenen Detailtreue. Aficionados dokumentieren Seriennummern abgeschossener Flugzeuge, zählen Fahrzeugwracks und wie viele Sowjetpanzer noch in den Depots tief in Russland stehen.

Die Kriegsparteien müssen damit umgehen. Das diktatorisch geführte Russland verhält sich ambivalent. Während jede Kritik am Krieg oder auch nur die Erwähnung des Wortes »Krieg« brutal unterdrückt wird, duldet sie das Engagement ultranationalistischer sogenannter Militärblogger, die das offizielle russische Narrativ unterlaufen (siehe Spalte).

Auf ukrainischer Seite ist das Bild kohärenter, direkte Lügen sind selten, Fakten werden meist korrekt wiedergegeben. Viele Brigaden betreiben de facto eigene Social-Media-Arbeit. Probleme entstehen hier eher aus erfolgreicher Selbstzensur, der Verzerrung durch Auslassung und dem Fokus auf Mikrobetrachtung. Die operative Sicherheit wird auf ukrainischer Seite so hervorragend durchgehalten, dass gewöhnliche Sterbliche über vieles, zum Beispiel die Verlustzahlen, schlicht nichts wissen. Etwas zu klare Worte sprach wohl der Oberkommandierende General Walerij Saluschnyj, mittlerweile auf ein Nebengleis abgeschoben. Todernst zu nehmen sind die gelegentlichen Stellungnahmen von General Kyrylo Budanow, dem Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes.

Die wichtigste Quelle außer den Kriegsparteien ist das US-amerikanische »Institute for the Study of War« (ISW). Bekannte Exmilitärs wie General David Petraeus geben ihr Gesicht für das Institut. Trotzdem wäre es eine Fehleinschätzung, im ISW eine Abteilung des US-Militärs zu sehen. Dieses hat eigene, natürlich mit der US-Regierung abgestimmte Sprachregelungen. Das ISW gilt, da es seine Methoden und umfangreichen Quellen offenlegt sowie differenziert bewertet, weltweit als seriöse Quelle, so dass sich Medien aller Art dort bedienen. Wer die täglichen Berichte zur politischen Lage, zum Kriegsgeschehen, den Reserven, Finanzströmen, der Logistik usw. liest, kann sich weitere Nachrichtenlektüre zum Thema weitgehend sparen. Wem das alles zu umfangreich und amerikanisch ist, der folgt vielleicht den Analysen von Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. Auf seine regelmäßigen Einschätzungen kann man sich verlassen, denn sie sind klar strukturiert und voller Bedacht. Er kommt zum Beispiel zu der Einschätzung, dass die primitive Vorgehensweise der russischen Armee nicht bedeutet, dass sie den Krieg verlieren wird. Wenn man monatlich 30.000 Mann in wahnwitzigen Einsätzen verheizt wie im Ersten Weltkrieg und man 30.000 neue Soldaten monatlich – mit welchen Methoden auch immer – nachschieben kann, kann das ein Erfolgsrezept sein.

Ist das ISW eher vorsichtig optimistisch, was die Erfolgsaussichten der Ukraine angeht, ist Reisner eher vorsichtig pessimistisch. Ebenfalls auf Deutsch liefert der Militärökonom Marcus Keupp spannende Analysen zur im Abnutzungskrieg entscheidenden Frage der Ressourcen und Logistik. Keupp muss man nicht mögen – ebenso wenig wie die anderen genannten Militärs. Seine Zahlenwerke zeigen aber deutlich, dass die Sowjetbestände, aus denen Russland immer noch schöpft, spätestens übernächstes Jahr zu Ende sein werden und dass Russland danach kaum eine Chance zu einer nachhaltigen Aufrüstung hat.

Zu guter Letzt ein Hinweis auf einen Autor mit dem maximalen geographischen Abstand zum Geschehen, dem australischen Exgeneral Mick Ryan. Nüchtern arbeitet Ryan in seinem neuen Buch »The War for Ukraine« das bisherige Kriegsgeschehen durch und analysiert auch die strategischen Ziele Russlands, der Ukraine, aber auch der USA und anderer Staaten. Dass die Ukraine eigenständige Ziele verfolgt, die sich eben nicht mit denen der USA decken, ist ja eigentlich leicht zu erkennen. Die USA wünschen einen ukrainischen Sieg, aber nicht so einen, wie die Ukraine ihn anstrebt. Die komplette Befreiung ukrainischen Territoriums von der Okkupation ist der US-Politik weit weniger wichtig als die Stabilität des russischen Staates nach der Niederlage, weshalb diese eben nicht katastrophal ausfallen dürfe (dazu z. B. zahlreiche Beiträge in Foreign Affairs, der führenden US-Zeitschrift für Außenpolitik. Nichts wäre schlimmer als die Implosion Russlands, denn nach Putin könne es nur noch schlimmer kommen. Präsident Selenskyj kann deshalb lange auf die Lieferungen warten, die er für seinen Sieg braucht.

Rolle russischer Militärblogger

Foto: Dom kobb

Foto: Dom kobb

Sie gleichen die mangelnde Fehlerkultur der russischen Streitkräfte durch ihre schäumende öffentliche Kritik an Unzulänglichkeiten der eigenen Seite teilweise aus. Am bekanntesten ist vielleicht Igor Girkin (Foto), eine zentrale Figur der russischen Okkupation des Donbass im Jahr 2014. Mittlerweile wegen Präsidentenbeleidigung in Haft darf er trotzdem publizieren und weiter den totalen Krieg fordern. Insgesamt bildet diese Szene trotz ihres ideologischen Extremismus eine wichtige, weltweit genutzte Informationsquelle. Enttäuscht ist man dagegen vom früher einmal als Denker hochgelobten General Waleri Gerassimow, dem russischen Oberkommandierenden. Eigentlich müsste er die Dinge klarer sehen, als es heute aus seinem Munde kommt.

Mick Ryan: The War for Ukraine. Strategy and Adaptation Under fire. Naval Institute Press, 2024, 348 Seiten, 33,60 Euro