Biografische Notizen

geschrieben von Ulrich Schneider

12. März 2025

Aus der Arbeiterbewegung: Regina Scheers Biografie über Hertha Gordon-Walcher

Es ist schon ungewöhnlich, wenn eine Biografie von knapp 700 Seiten über eine Frau, dazu noch eine jüdische Kommunistin, deren Namen vielen wenig sagen dürfte, den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2023 erhielt und nach einem Jahr bereits eine zweite Auflage erlebte. Gemeint ist von Regina Scheer »Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution«.

Die Theater- und Kulturwissenschaftlerin erreichte 2014 mit ihrem Roman »Machandel« zum ersten Mal ein breiteres Publikum. Auch das folgende Buch »Gott wohnt im Wedding« (2019) beschäftigte sich mit den Fragen: Wie können Menschen, die in der NS-Zeit verfolgt wurden, damit weiterleben? Gleichzeitig stellt sie auch Fragen als Nachgeborene: Wie können wir uns heute solchen Biografien angemessen nähern, ohne diese für unsere eigene politische Agenda zu missbrauchen?

Vor diesem Hintergrund schreibt Regina Scheer über ihre Tante Hertha Gordon-Walcher (1894–1990). Diese, eine jüdische Kommunistin, hat seit der Novemberrevolution in den Reihen der revolutionären Teile der deutschen Arbeiterbewegung gewirkt. Ein Rezensent betont, sie habe in unruhigen Zeiten gewirkt, geprägt von existenziellen Auseinandersetzungen unter Gleichgesinnten in der Weimarer Republik, während die Nazis bedrohlich erstarken, von Widerstand, Flucht und Exil sowie der Hoffnung auf den Aufbau eines anderen Deutschland nach dem Krieg. Klarer wird das Bild dieser Frau durch eine Episode, wie Hertha Gordon-Walcher klandestin nach Moskau reiste, um politische Dokumente zu überbringen, und dort Lenin und Stalin begegnete.

Historisch geprägte Ängste über Verfolgungen

Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution. Penguin Verlag, München 2023, 704 Seiten, 30 Euro

Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution. Penguin Verlag, München 2023, 704 Seiten, 30 Euro

Die Jury lobte das Buch als »teilnehmende Biographik«, da die Autorin diese Biografie basierend auf einer tiefen persönlichen Freundschaft und jahrelangen Gesprächen geschrieben habe. Dabei ist es ebenso spannend, dass die Beschriebene sich jegliche Aufzeichnungen über diese Unterhaltungen verbeten hatte – zu tief waren die historisch geprägten Ängste über Verfolgungen in sie eingebrannt.

Die Geschichte von Hertha Gordon-Walcher ist das Panorama einer Epoche, das in einer jüdischen Familie in Königsberg begann, durch die Oktoberrevolution in Moskau und die Kämpfe der KPD in der Weimarer Republik ebenso geprägt wurde wie durch das Exil und schließlich nach Jahren in der DDR im wiedervereinigten Berlin endete. Zu ihren Weggefährten gehörten Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Wilhelm Pieck, Bertolt Brecht und Willy Brandt. Später in der DDR waren sie und ihr Mann – trotz politischer Differenzen – mit zentralen Vertretern der wissenschaftlichen und politischen Elite persönlich verbunden. Teil der Erinnerung sind auch Frauen in Spartakusbund, KPD, SAP und SED, die quasi Hertha Gordon-Walchers politische Familie wurden.

Ein Leben lang Kommunistin

Sie war ihr Leben lang Kommunistin. Sie verließ ihre Familie und die jüdische Gemeinde in Polangen im heutigen Litauen in jungen Jahren, ging nach London, wo sie Sozialist*innen kennenlernte und sich kritisch mit der damals aktuellen »bürgerlichen Frauenfrage« der Suffragetten auseinandersetzte. Von dort zog sie nach Stuttgart, arbeitete mit Clara Zetkin zusammen und lernte Jacob Walcher kennen, den sie später heiratete. Sie wurde Sekretärin von Karl Radek in Moskau nach der Russischen Revolution, die ihr Leben lang Referenzpunkt bleiben sollte.

Sie war Mitglied im Spartakusbund, dann in der KPD und später in der SAPD. Vor den Nazis flüchtete sie nach Paris, dann New York – und kehrte zusammen mit ihrem Ehemann und Mitstreitern wie Bertolt Brecht nach dem Krieg in die neu gründete DDR zurück. Dort musste sie erleben, dass sie als »Westemigrantin« und zudem als Frau politisch in der zweiten Reihe blieb. Das hinderte sie aber nicht, die Verbindungen zu den ehemaligen politischen Weggefährten lebendig zu halten. Die Verfasserin der Biografie kam auf diese Weise in Kontakt zu überzeugten Kommunist*innen in der DDR, die aufgrund ihrer politischen und biografischen Erfahrungen sich nicht als »linientreu« erwiesen. Das realisierte die Autorin, wie sie im Eingangskapitel an verschiedenen Stellen ausdrückt, eigentlich erst, als sie sich an das Verfassen dieses Werkes machte. Eines haben die vielfältigen Gespräche mit ihrer Tante jedoch bei ihr als Lebensmotto tief verwurzelt, wie es im Klappentext prägnant formuliert wurde: »Eine Alternative zum Kapitalismus ist möglich, eine Welt ohne Krieg, Armut und Ausbeutung: davon ist die junge Jüdin Hertha Gordon, später Walcher, überzeugt, als sie sich in den 1910er-Jahren den Sozialisten anschließt und in den Kampf stürzt. Hautnah erlebt sie den großen Traum von der Revolution, aber auch das Scheitern und schmerzhafte Ende der Illusionen mit.«

»Bittere Brunnen« ist ein offenes, komplexes und vielschichtiges Buch. Wohl niemand kann es nach der Lektüre beiseite legen und sagen, jetzt weiß ich alles. Diese Biografie lässt die Lesenden mit Fragen zurück – und das ist gut so.

Überzeugende Biografie

Regina Scheer hat eine überzeugende Biografie einer kommunistischen Frau geschrieben, ohne ihr Leben zu heroisieren oder – aus der Perspektive der Nachgeborenen – dauerhaft zu hinterfragen. Das schaffte sie, da sie nicht nur im Eingangskapitel sichtbar bleibt und kritisch diskutiert, was sie von ihrer Tante hört, selbst das, was sie nicht verstehen kann. Manche Fragen konnte Regina Scheer Hertha Gordon-Walcher selbst stellen, als sie die damals schon alte Frau als Kind kennenlernte. Sie besuchte sie bis zu ihrem Tod und machte sich über ihre Erzählungen Notizen. Daraus entstand eine sensible, emphatische Biografie, für die die Verfasserin zudem akribisch recherchiert hat.