Kontinuitätslinien

geschrieben von Axel Holz

9. November 2025

Unerwünschte Opfer: Verfolgte des Naziregimes in Westdeutschland

In ihrem Buch »Unerwünscht« beleuchtet die renommierte Historikerin Stefanie Schüler-Springorum den westdeutschen Umgang mit den Verfolgten des Naziregimes. Es wirft einen anderen Blick auf die vermeintliche Erfolgsgeschichte der Deutschen bei ihrer Vergangenheitsbewältigung, die auch im Ausland immer wieder betont wird. Zu Wort kommen Naziopfer, die nach 1945 erneut Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt waren. Auf 200 Seiten zeigt die Autorin eine Geschichte westdeutscher Demokratie auf, die wenig mit einem fortschrittlichen Umgang mit Geschichte zu tun hat.

Kampf um Anerkennung

Schüler-Springorum stellt die Nachkriegsgesellschaft im Buch aus der Sicht der Menschen dar, die im NS-Regime verfolgt wurden. Viele NS-Opfer mussten um ihre Anerkennung kämpfen und neue Diskriminierungen erfahren. Die Autorin geht noch einen Schritt weiter. Für zahlreiche Opfer war das Leid nach dem Krieg nicht vorbei. Sie waren im Großteil der Bevölkerung und bei Behörden schlichtweg unerwünscht, so ihr zusammenfassendes Urteil. Nach 1945 gab es nicht weniger Antisemitismus und Rassismus, nicht weniger Hass auf Homosexuelle, Sinti und Roma, sondern wahrscheinlich mehr, konstatiert die Autorin.

Stefanie Schüler-Springorum: Unerwünscht. Die westdeutsche Demokratie und die Verfolgten des NS-Regimes. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025, 256 Seiten, 25 Euro

Stefanie Schüler-Springorum: Unerwünscht. Die westdeutsche Demokratie und die Verfolgten des NS-Regimes. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025, 256 Seiten, 25 Euro

Unerwünscht waren nicht nur Juden, die etwa auf den Schwarzmärkten der Nachkriegszeit von Gesetzeshütern als »feilschende« jüdische »Displaced Persons« erneut stigmatisiert wurden. Mit ähnlicher Absicht wurden Sinti und Roma als »Landfahrer« durch Behörden behandelt, drangsaliert und vielfach kriminalisiert. Dazu wurde die polizeiliche »Landfahrer-Datei« der Nazis über 30.000 Sinti und Roma weiter polizeilich zur Ausgrenzung genutzt. Überlebende Menschen mit Behinderungen, die von den Nazis als »Erbkranke« stigmatisiert wurden, kämpften oft erfolglos um die Anerkennung als NS-Opfer und für ihr Recht auf Entschädigungen. Mittellose ehemalige Zwangsarbeiter wurden von Bevölkerung und Behörden häufig als »marodierende Osteuropäer« diskriminiert. Überlebende Homosexuelle wurden in der Bundesrepublik auf Basis des berüchtigten Paragraphen 175 in der strengen Fassung von 1935 bis 1969 nicht selten erneut verfolgt. Hass und Ressentiments waren nach dem Krieg im Denken der Menschen weit verankert – mit Auswirkungen bis heute.

Die Autorin widmet sich in diesem Buch besonders denjenigen, die sich im Gegensatz etwa zu den politisch Verfolgten kaum in Organisationen und Interessenvertretungen zusammenfanden und ohne diese Solidarität besonders unter der erneuten Diskriminierung litten. Sie verweist auch darauf, dass fast alle Initiativen zur Entschädigung der Opfer und zur Erinnerung nicht etwa vom Staat, sondern von den ehemals Verfolgten selbst ausgingen. Die fortgesetzten Praktiken der Verfolgung werden insbesondere mit Blick auf Sinti und Roma sowie die nach dem Strafgesetzbuch als homosexuell Kriminalisierten dargestellt.

Ignoranz, Gleichgültigkeit, Verleugnung

Diese Darstellungen sind für den Leser oft kaum zu ertragen. Seite um Seite begegnen uns Ignoranz, Gleichgültigkeit, Verleugnung und Ablehnung in den Erzählungen jüdischer Verfolgter, von Sinti und Roma, Homosexuellen und ehemaligen Zwangsarbeitern. Wir erleben die spießige Empathielosigkeit deutscher Behörden, wenn etwa schwer erkämpfte kleine Entschädigungen um bereits erhaltene Sozialleistungen wieder gekürzt werden.

Ludger Heid kommentierte treffend in der SZ: »In Stefanie Schüler-Springorums Nachgeschichte des Nationalsozialismus scheinen Kontinuitätslinien von Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Homophobie ungefiltert auf, Ressentiments, die zugleich erklären, was uns heute als rechter Populismus gegenübertritt. Sie hat diese Geschichte mit Empathie für die verschiedenen Opfergruppen faktensicher erzählt und dabei umsichtig die Balance zwischen Parteilichkeit und wissenschaftlicher Distanz austariert.«

Schüler-Springorum erläutert präzisierend, dass sie mit dem Begriff der Verfolgung nach 1945 »nicht etwa eine Kontinuität mit den im nationalsozialistischen Deutschland begangenen Verbrechen nahelegt. (…) Vielmehr geht es darum, das Potenzial und die Bandbreite dieser aggressiven Taten deutlich zu machen. Sie umfassen politische Hetze, spontane zivile, aber auch polizeiliche Gewalt sowie Fälle beharrlicher Diskriminierung« (S. 116). Die Autorin will mit dem Buch dazu beitragen, »unser Wissen über die Geschichte unseres Landes zu erweitern, mit dem Ziel, dass die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit anschlussfähig wird an andere Erzählungen«, nämlich die der Opfer (S. 196).