Empathieblockaden
9. November 2025
Ein Essayband über Shoa, Holocaust und Nakba sucht Verständigung
Der Berliner Arabist Ruben Schenzle hat den kleinen Essayband »Fiktive Grenzverletzung« vorgelegt, mit dem er die »Zusammenhänge zwischen Shoa, Nakba, Holocaust« auszuleuchten versucht. Der Essay besteht aus mehreren Teilen. Zum einen beschreibt Schenzle seinen persönlichen Zugang zu dem Thema. Er ist in Leonberg, einer Kleinstadt bei Stuttgart, aufgewachsen. Er erinnert sich, wie sein Vater immer wieder mit den Großeltern über die persönliche Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes diskutierte. Aus diesen Diskussionen entstand bei ihm ein antifaschistisches Grundverständnis, das bis heute anhält.
Ein Jahr in Israel verändert den Blick
Nach dem Abitur zog er für ein Jahr nach Israel. »Meine deutsche Verantwortung leitete sich insbesondere aus der Zeit und den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs ab, also von 1939 bis 1945; mein persönlicher Beitrag zur Wiedergutmachung zielte vor allem auf die Opfer der Konzentrationslager.« Er arbeitete in einem französischen Pflegehospiz in Jerusalem. Ein Stationsarzt organisierte ein Treffen mit einem älteren jüdischen Ehepaar. Das Ehepaar erzählte von seinem Leben in NS-Deutschland und dem mulmigen Gefühl, das es hatte, als es später zum ersten Mal wieder in Deutschland zu Besuch war. Einer der Zivis unterbrach und stellte die Frage, ob sie die Situation an der Grenze, als sie ihre Papiere vorzeigen mussten, nicht an die der palästinensischen Menschen erinnert habe. Das Ehepaar reagierte empört – und Schenzle teilte diese Empörung. Im Nachhinein sieht er seine damalige Reaktion jedoch anders: »Erst heute sehe ich, wie meine Reaktion von einer unbewussten Empathieblockade getragen war, die klar unterschied, wer zur Geschichte bzw. zu unserem geteilten und eingeübten Narrativ gehört und wer nicht« (S. 23).
Begriffliche Klarheit und politische Sprengkraft

Ruben Schenzle: Fiktive Grenzverletzungen – Zusammenhänge von Shoa, Nakba, Holocaust erzählen. AphorismA-Verlag Berlin 2025, 96 Seiten, 15 Euro
Schenzles Blick auf die Geschichte ist geprägt von der internationalen Diskussion. Das wird bei seiner Unterscheidung zwischen den Begriffen Holocaust und Shoa besonders deutlich. Der Begriff Holocaust steht für ihn für »die systematische Ermordung von insgesamt 19,7 Millionen Andersdenkenden und als minderwertig erachteten Mitmenschen« (S. 16). Für Schenzle gehören die Verfolgung von Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen ebenso zum Holocaust wie die Verfolgung homosexueller Männer oder erwerbsloser Menschen. Im Gegensatz dazu bezeichnet die Shoa die Ermordung der jüdischen Menschen. Durch die Ausweitung des Begriffs Holocaust gelingt es ihm, einen Bezug zur Vertreibung (Nakba) der palästinensischen Bevölkerung herzustellen. Diese Vertreibung beginnt für ihn mit der Gründung Israels. Diese Herleitung ist für mich unerträglich.
Trotzdem möchte ich an einem Punkt eine Lanze für das Buch brechen. Der Essayband enthält eine Analyse, wie palästinensische und israelische Literatur die erlebten Traumata verarbeitet. Diese Beispiele aus der Literatur sind geeignet, das zu erreichen, was Schenzle beabsichtigt hat: Verständnis für den Schmerz der anderen zu wecken.
























