Ein Name, der Opfer verhöhnt

geschrieben von Sophie Lierschof

9. November 2025

Asperger gehört in die Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen, nicht in eine Diagnose

Historische Forschungen zeigen, was längst bekannt sein müsste: Der Kinderarzt Hans Asperger begutachtete in der NS-Zeit Kinder, die er für »nicht bildungsfähig« und »nicht verwertbar« hielt, und schickte sie bewusst in die Wiener Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund. Seine Beobachtungen an autistischen Kindern ordnete er danach, ob eine Eigenschaft der Gesellschaft nütze oder schade. Wenn er eine Belastung sah, überstellte er seine Patient*innen wissentlich in den Tod.

Asperger war zwar wohl kein überzeugter Nazi, aber ein ideologischer Rassenhygieniker. Er vertrat eine pseudowissenschaftliche Lehre, die vorgab, die »Erbgesundheit« zu verbessern, tatsächlich aber Zwangssterilisationen und Morde rechtfertigte. Von seinem Vorgesetzten Franz Hamburger übernahm er diese Haltung. Gemeinsam mit Hamburger, Erwin Jekelius und weiteren NS-Tätern gründete er die »Heilpädagogische Gesellschaft«, die steuern sollte, wie mit schwer behinderten Kindern im Sinne der Rassenhygiene umzugehen sei.
Jekelius war Präsident, Asperger sein Stellvertreter. Es war bekannt, dass Jekelius und seine Kollegen an der Ermordung Tausender Kinder beteiligt waren. Er leitete die Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund in Wien und koordinierte Selektionen und Deportationen in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz.

Auch Heinrich Gross, einer der Mörder meiner Großtante Irma, profitierte nach dem Krieg weiter. Er forschte jahrzehntelang an Gehirnen und Rückenmarkspräparaten der getöteten Kinder, darunter Irmas. Gross wurde bis 1998 geehrt und als Gerichtspsychiater eingesetzt, obwohl seine Taten bekannt waren.

Asperger selbst machte Karriere als fürsorglicher Kinderarzt – doch sein Ansehen gründete auf der rassenhygienischen Selektion, die er mitentwickelt hatte. Dass Menschen im Autismus-Spektrum heute noch nach ihm benannt werden, ist eine Verhöhnung seiner Opfer. Der Name Asperger verleiht einem Täter Sichtbarkeit und Ehre, die ihm nicht zusteht. Er gehört ausschließlich in die kritische Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen, nicht in eine Diagnose.

Die Verwendung des Begriffs widerspricht auch dem heutigen medizinischen Stand. Autismus wird als Spektrum verstanden, nicht als starre Kategorie. Diese Sichtweise ist fachlich korrekt und respektvoll gegenüber Betroffenen. Seit 2013 wird der Begriff im Diagnosekatalog DSM-5 nicht mehr genutzt – teils wegen Aspergers Taten, vor allem aber, weil er wissenschaftlich überholt ist. Im noch gültigen ICD-10 steht unter F84.5 weiterhin der alte Begriff, während die ICD-11 endlich von Autismus-Spektrum-Störung spricht, bislang jedoch ohne verpflichtende Anwendung.

Auch die Ausbildung von Mediziner*innen und Psycholog*innen braucht mehr Bewusstsein für Geschichte und Ethik. Zwar gibt es seit Jahrzehnten entsprechende Pflichtvorlesungen, doch die Verantwortung dieser Berufsgruppen im Umgang mit der NS-Vergangenheit wird noch immer unterschätzt. Wie wir über Autistinnen sprechen, beeinflusst, wie wir über sie denken. Wenn weiterhin gesagt wird, sie seien »nach einem NS-Täter benannt«, verharmlost das die Verbrechen und vermittelt ein klischeehaftes Bild von Neurodiversität. In Medien werden Autistinnen häufig als schrullige Genies oder gefühlskalte Sonderlinge dargestellt – das ist stigmatisierend und respektlos. Es verletzt nicht nur die Opfer und Angehörigen der NS-Krankenmorde, sondern auch die Würde neurodivergenter Menschen.

Viele Autist*innen identifizieren sich seit Jahren mit dieser Bezeichnung. Für manche ist es daher schmerzhaft zu erfahren, dass der Begriff belastet ist. Dennoch muss sichtbar gemacht werden, dass es einen Unterschied gibt, ob Betroffene den Begriff für sich selbst verwenden oder ob er in Medien, Fachzeitschriften oder im klinischen Alltag genutzt wird.

Begriffe und Namen aus der NS-Zeit sind kein harmloses Zeitdokument. Für Betroffene und Angehörige reißen sie Wunden auf – Geschichten von Gewalt, Verfolgung und Mord. Besonders in Familien, deren Angehörige misshandelt oder ermordet wurden, bleibt die Angst vor Ausgrenzung über Generationen bestehen. Jedes Mal, wenn solche Begriffe unkritisch fallen, flammt sie neu auf.

Der Name Asperger hat in Diagnosen und auch im allgemeinen Sprachgebrauch und in den Medien nichts verloren. Er gehört ausschließlich in die kritische Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Wer Täter ehrt, macht die Opfer unsichtbar.

Sophie Lierschof ist in einer Familie aufgewachsen, die vom NS-»Euthanasie«-Programm betroffen war. Sie engagiert sich seit vielen Jahren in der Gedenkarbeit, mit der Aufklärung von NS-Verbrechen und für einen richtigen Umgang damit. Zu ihrer Motivation schreibt sie: »Meine Großtante Irma Sperling wurde 1944 mit 14 Jahren in der Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund in Wien ermordet. Mit diesem Wissen bin ich aufgewachsen. Seit meiner Kindheit setze ich mich deshalb mit den Krankenmorden der Nazis auseinander. Es macht mich wütend, dass Täter wie Hans Asperger geehrt werden, genauso wie der Mörder meiner Großtante. Und über die Opfer wird geschwiegen. Seit Jahren schreibe ich deshalb Beschwerdebriefe an Medien, die den Namen von Herrn Asperger als Diagnosebegriff verwenden. Meistens erhielt ich keine Antwort, aber der SWR schrieb mir, man sehe die betreffenden Folgen als ›Zeitdokumente‹. Ein nachträglicher Umschnitt sei ›nicht immer möglich‹, stattdessen wolle man künftig einen Warnhinweis davor setzen.«

Siehe auch kurzlinks.de/nstaeter

Literatur und Quellen:

[1] Czech, H. (2018). Hans Asperger, National Socialism, and »race hygiene« in Nazi-era Vienna. Molecular Autism, 9(1), 1–43. https://doi.org/10.1186/s13229-018-0208-6

[2] Sheffer, E. (2018). Asperger’s Children: The Origins of Autism in Nazi Vienna. New York: W. W. Norton & Company.

[3] Der Standard. (2018). Hans Asperger und die Kindermorde am Wiener Spiegelgrund. derStandard.at. Abgerufen am 21. Juli 2025, von https://www.derstandard.at/story/2000090621272/hans-asperger-und-die-kindermorde-am-wiener-spiegelgrund

[4] Der Spiegel. (2018). Hans Asperger – Täter oder Retter? Spiegel Online. Abgerufen am 21. Juli 2025, von https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose-asperger-hans-asperger-taeter-oder-retter-a-000000.html

[5] American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5th ed.). Arlington, VA: American Psychiatric Publishing.

[6] Hamburg Frauenbiografien. (o.  J.). Irma Sperling. Abgerufen am 21. Juli 2025, von https://hamburg-frauenbiografien.de/item/3394

[7] Hörstolpersteine. (o.  J.). T4: Der Fall Irma Sperling. Abgerufen am 21. Juli 2025, von https://hoerstolpersteine.net/t4-der-fall-irma-sperling

[8] taz. (2012). Antje Kosemund – Schwester eines Euthanasie-Opfers. taz.de. Abgerufen am 21. Juli 2025, von https://taz.de/Antje-Kosemund-Schwester-eines-Euthanasie-Opfers/!5148837/