Solidarität unter Betroffenen
9. November 2025
Gedenkinitiative zum Anschlag in Halle bekämpft Antisemitismus und Rassismus gemeinsam. Ein Gespräch
antifa: Warum habt ihr euch organisiert?
Stefanie: Wir sind ein recht loser Zusammenschluss von Menschen, die politisch organisiert sind, sich im Antifa- und Antira-Spektrum verorten und teilweise wissenschaftlich oder in NGOs zu Rassismus und Antisemitismus arbeiten. Im letzten Jahr, am fünften Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags in Halle, haben wir in Berlin ein öffentliches Gedenken organisiert, in Kooperation mit der »Soligruppe 9. Oktober« aus Halle, die aus Überlebenden des Anschlags und Unterstützer:innen besteht. Dabei war es uns besonders wichtig, die Stimmen der Betroffenen zu verstärken und ihre Erfahrungen wie auch die Bedeutung solidarischer Bündnisse über Halle hinaus sichtbar zu machen. Uns ist aufgefallen, dass der 9. Oktober innerhalb linker Debatten oft wenig Beachtung findet, obwohl es sich um ein einschneidendes Ereignis rechtsterroristischer Gewalt handelt. Deshalb ist es uns wichtig, diesen Tag in der Erinnerungskultur zu verankern. Darüber hinaus beschäftigen wir uns theoretisch und diskursiv mit dem Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus. Unter anderem den Fragen, wie diese Formen der Unterdrückung und Gewalt miteinander verflochten sind. Wir betrachten auch den Zusammenhang mit Antifeminismus, der insbesondere in extrem rechten Ideologien erkennbar ist.
antifa: Wie habt ihr 2025 an den Anschlag vom 9. Oktober 2019 erinnert?
Franzi: Wir haben zum zweiten Mal eine Kundgebung am Oranienplatz in Berlin organisiert, die wie im Vorjahr stark auf Redebeiträge von Überlebenden fokussiert war. Fünf von ihnen berichteten sechs Jahre nach dem Anschlag, welche Bedeutung dieser Tag für sie hat, und ordneten ihn in die längere Geschichte antisemitischer, rassistischer und misogyner Gewalt sowie die aktuellen Entwicklungen ein. Darüber hinaus haben Gruppen, die sich bereits seit Längerem mit rechtsterroristischen Anschlägen beschäftigen, Redebeiträge gehalten – darunter die Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş in Berlin und eine Gruppe aus Hanau. Diese Vielfalt der Perspektiven zeigte, wie unterschiedliche Orte und Betroffene von rechtsterroristischer Gewalt miteinander vernetzt sind und gemeinsam an der Erinnerung arbeiten. Vielfach Thema war auch der massive Anstieg von antisemitischen Angriffen hierzulande nach dem 7. Oktober 2023. Besonders wichtig war uns, dass sich alle Redner:innen sicher fühlen, insbesondere auch nach dem antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Manchester am 2. Oktober in diesem Jahr und den antisemitischen Demos am 7. Oktober in Berlin. Wir haben deshalb ein umfassendes Sicherheitskonzept erstellt. Letztlich verlief die Kundgebung ruhig und wohlwollend, was uns sehr erleichtert hat.
antifa: Welche Bedeutung hat für euch die Vernetzung mit anderen Initiativen?
Stefanie: Es gibt seit einigen Jahren ein Solidaritätsnetzwerk von Betroffenen rechter Gewalt, das an Opfer rechten Terrors erinnert. Die Solidarität unter Betroffenen ist beeindruckend: Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht oder enge Angehörige verloren haben, unterstützen einander und schaffen dadurch eine Gegenkraft zur Brutalität des rechten Terrors.
Gleichzeitig ist klar, dass die Arbeit von Überlebenden und Initiativen, die sich gegen rechten Terror engagieren, nicht allein ausreicht. Sie benötigt politische Unterstützung, etwa in Form von Präventionsmaßnahmen, Sicherheitsvorkehrungen und institutioneller Anerkennung, die derzeit oft unzureichend ist. Es braucht eine klare Übernahme der Verantwortung vonseiten der Politik. Ohne eine solche Unterstützung bleibt die Reichweite der Ini-tiativen begrenzt, und die Gefahr besteht, dass die Erinnerung an die Opfer marginalisiert wird.
antifa: Ihr sprecht davon, dass häufig Antisemitismus und Rassismus gegeneinander ausgespielt werden. Wie erlebt ihr diese Dynamik?
Franzi: Die öffentliche Debatte ist stark polarisiert. Antisemitische und rassistische Äußerungen treten oft gleichzeitig auf und vermischen sich, etwa in Diskussionen über den Gazakonflikt oder Kritik an Antisemitismus. Wir verfolgen einen Ansatz des »Sowohl-als-auch«: Antisemitismus muss klar benannt werden, ebenso Rassismus. Es gilt, rassistische Instrumentalisierungen nicht zu reproduzieren, etwa wenn Kritik an Antisemitismus genutzt wird, um Ressentiments gegen Palästinenser:innen und als muslimisch gelesene Menschen zu schüren. Im vergangenen Jahr wurde deutlich, wie schnell legitime Solidarität mit Palästinenser:innen rassistisch diskreditiert werden kann. Gleichzeitig sind im Zusammenhang mit der zunehmenden Brutalität des Gazakriegs die Zahlen antisemitischer Angriffe extrem angestiegen. Jüdinnen*Juden haben nach dem 7. Oktober von einer massiven Entsolidarisierung berichtet. Unser Ziel ist es, diesen Zusammenhang transparent zu machen und eine Position zu stärken, die beide Formen von Diskriminierung anerkennt und in ihren jeweiligen Kontexten benennt.
Stefanie auf die Frage, welche Entwicklungen sie im Hinblick auf die Pogrome um den 9. November 1938 heute im öffentlichen Erinnern und im Umgang mit Antisemitismus wahrnehmen: »Angriffe auf Denkmäler und Gedenkstätten nehmen zu, beispielsweise auch in Berlin-Moabit im letzten Jahr mit antisemitischer Parole und Bezug zum Gazakonflikt. Solche Angriffe zeigen, wie Erinnerung politisch instrumentalisiert und relativiert wird. Wir als Gruppe haben auch über die Parole »Free Palestine from German Guilt« diskutiert, die wir problematisch finden, weil sie an rechte Schuldkult- und Schlussstrich-Debatten anschließt, auch wenn teilweise eine andere Motivation dahinter steht. Zudem wird der 9. November zunehmend durch die Erinnerung an den 9. November 1989 überlagert. Dies dient oft der Konstruktion eines positiven nationalen Selbstbildes – Stichwort »Wiedergutwerdung der Deutschen« –, während die Auseinandersetzung mit der antisemitischen Gewalt von 1938 in den Hintergrund tritt. Nur durch eine kritische und reflektierte Erinnerungskultur kann verhindert werden, dass historische Erfahrungen vereinfacht, instrumentalisiert oder verzerrt werden.«
Das Gespräch führte
Andreas Siegmund-Schultze
Franzi und Stefanie sind aktiv in der Berliner »Initiative Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen«.
























