Nazis hatten Vorrang
21. November 2013
Ein persönlicher Blick auf die Geschichte der alten Bundesrepublik. Von Ulrich Sander
Am 1. April 1947 kam ich zur Schule. Es war die Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg. Es wurde gemunkelt, hier im Keller hätten die Nazis kurz vor Kriegsende 20 jüdische Kinder ermordet. Die Lehrer stritten es ab, meine Eltern, aktive Antifaschisten, bestätigten es, denn sie hatten davon in der Zeitung gelesen: Die Mörder stünden vor einem englischen Gericht. Einige wurden hingerichtet, andere blieben straffrei. So Arnold Strippel, Kommandeur der Mordaktion. Als genügend Beweise gegen ihn zusammenkamen, wurde erneut ein Prozess gegen ihn versucht. Aber nun gab es die englische Gerichtsbarkeit nicht mehr. Strippel konnte unmittelbar nichts nachgewiesen werden, er hatte nicht selbst Hand angelegt. So wurde er freigesprochen und bekam für die Untersuchungshaft noch Entschädigung.
Mein Interesse und späteres Engagement für die Aktivitäten der VVN gegen die Wiederbetätigung der Nazis und ihre »Weiterverwendung« begann sehr früh. Mit den Kameradinnen und Kameraden hielten wir Mahnwachen vor den Häusern von Blutrichtern ab – so Anfang der Sechziger in Hamburg-Bergedorf. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der wir uns als Geschwister Scholl Jugend verbunden fühlten, war in den Hochzeiten des Kalten Krieges auf Landesebene in Hamburg verboten worden. Das war die Zeit, da ein Ministerialdirektor Roemer im Bundesjustizministerium arbeitete, der 1943 die Vollstreckung des Todesurteils gegen die Geschwister Scholl geleitet hatte. Das war die Zeit, da der Hamburger Gestapo-Mörder und Reichssicherheitshauptamtschef Bruno Streckenbach in Hamburg auf freien Fuß gesetzt wurde und Willi Dusenschön, der KZ-Kommandant von Fuhlsbüttel, dort wo Hübener und seine Freunde eingesperrt waren, wegen »Mangel an Beweisen« freigesprochen wurde. So gut wir konnten, haben wir über diese Skandale aufgeklärt, mit Flugblättern und Dokumentationen.
1945er vs. 1949er
Kürzlich erschien ein spannendes Buch: »Staatsschutz in Westdeutschland« von Dominik Rigoll (Göttingen 2013). Wer das »Braunbuch« aus der DDR (1965) und das »Weißbuch« der VVN (1960/neu 2004) nicht mehr hat, der kaufe sich dies Buch. Meine These: »Nazis haben Vorrang vor ihren Opfern« wird darin bestätigt. Der Autor berichtet, wie die Nazis nach dem 8. Mai 1945 Berufsverbote bekamen, verurteilt wurden, ausgeschaltet wurden, weil nun die 45er dran waren. Und er berichtet, wie diese 45er ab Gründung der Bundesrepublik wieder verfolgt wurden, mit Berufsverboten und Bestrafungen überzogen wurden. Denn nun waren die 49er dran. Doch die 45er gaben niemals auf, bis heute nicht.
Das Blitzgesetz von 1951 entschied antitotalitär: Rechtsextremisten sind gleich Linksextremisten, aber Rechte sind gleicher. Es wurde schon 1950 von Kanzler Adenauer und seinem hohen Staatsbeamten in NSDAP- und CDU-Zeiten Hans Globke eine Liste der Extremisten aufgestellt mit einem Dutzend linken Organisationen und zwei rechten, und wer ihnen angehörte, musste aus dem öffentlichen Dienst ausscheiden. Die linken Organisationen, so die KPD, aber in einigen Ländern auch die VVN-BdA und überall die FDJ, wurden verboten. Wer dem Verbot zuwider handelte, wurde eingesperrt. Da hatten es die Nazis besser. Sie orientierten sich nicht auf die Sozialistische Reichspartei, die auch verboten wurde. Sie brauchten keine Partei, keine Organisation. Ihre Organisation war der Staat. Tausende Nazis wurden als Beamte wieder eingestellt. Und von diesen Positionen aus konnten sie fortsetzen, womit sie 1945 aufhören mussten. Nein, sie sperrten ihre Gegner nicht ins KZ und erschlugen sie nicht. Aber sie betrieben Rufmord, vernichteten Existenzen, sperrten rund 10.000 Linke ein. Selbst dort, wo eine linke Organisation nicht verboten war, wie im Falle der DKP ab 1969, wurden ihre Mitglieder doch so behandelt, als seien sie Teil einer verfassungswidrigen Partei – wo es ging, wurden sie aus den Ämtern entlassen und erhielten Berufsverbot.
Doch der Widerstand dagegen hielt an. Das 131er Gesetz von 1951 bestimmte, dass Nazis die 1945 zurückgestuft oder aus dem Dienst entfernt wurden, nun »aus sozialen Gründen« wieder in den Dienst zurückkehren konnten. Wer ab 1945 Entschädigung für erlittene Verfolgung bekommen hatte, sah sich bald – z. B. wenn er weiter als Kommunist aktiv blieb – seiner Rente beraubt; viele mussten sie gar zurückzahlen. Für Nazis gab es Pensionen, für ihre Opfer nicht. Wer als Ausländer der SS angehörte, galt laut einer Hitler-Verordnung als Deutscher und bekam, so er kriegsbeschädigt war, eine Rente. Wer ein Deserteur war, bekam – vor 1998 – keine Entschädigung. Seine Witwe war – bis 1991 – keine Kriegerwitwe, die wie die anderen Geld bekam. Wer im Strafbataillon war, bekam – bis 1998 – auch nichts. Wer aber z.B. bei den Nazis Richter war, doch nach dem Kriegsende nicht mehr, der bekam seine Pension weiterbezahlt, als hätte er die Karriere ungebrochen fortgesetzt und wäre möglicherweise sogar noch aufgestiegen. Die Witwe des Präsidenten des Volksberichtshofes Freisler bekam eine Witwenrente in der Höhe der angeblich möglichen Pensionsprogression ihres verblichenen Mördergatten.
Die Enthüllungen über die hohen Pensionen, derer sich die Nazis erfreuen durften, standen lange im Mittelpunkt der Aktivitäten der VVN. Die angegriffenen Beamten und Offiziere und ihre Schutzherren, wie Franz Josef Strauß, schäumten vor Wut. Sie verboten zeitweise die antifaschistische Zeitung »Die Tat« und versuchten die Verbreitung des »Weißbuch – in Sachen Demokratie« mit seinen konkreten Enthüllungen einzuschränken. Die so bedrängten Antifaschisten beriefen sich auf die Grundrechte und das Grundgesetz. So kam es vor, dass dann, wenn bei einem politisch verdächtigen Linken bei einer Hausdurchsuchung ein Exemplar des Grundgesetzes gefunden wurde, diese Tatsache bis in Anklageschriften vordrang.
Der Militarismus von vor 1945 siegte über den Antimilitarismus von 1945
Aktionen gegen die Remilitarisierung, für Abrüstung und die Aufklärung über Kriegspläne standen im Mittelpunkt der Tätigkeit der Antifaschisten. Die westlichen Alliierten, vor allem die USA, wollten seit Beginn der 50er Jahre wieder deutsche Streitkräfte an ihrer Seite wissen, um sie im Kampf gegen den Bolschewismus einsetzen zu können. Führende Nazigeneräle stellten einen Plan für den Aufbau der Bundeswehr auf. Doch sie stellten eine Bedingung: Wir machen nur mit, wenn die Bestrafung von Wehrmachts- und SS-Leuten aufhört, ihre Ehre wiederhergestellt wird und ihre Versorgung sichergestellt wird. Und so geschah es. Die Zahl der mutmaßlichen Massenmörder, die in der Bundeswehr unterkamen, belief sich auf rund eintausend. Nicht einer von ihnen kam vor Gericht. Als mit dem Massaker des Obersten Georg Klein am Kundus der erste Massenmord der »neuen Wehrmacht«, so nannten sie die Bundeswehr zunächst, zu verzeichnen war, da wurde der Täter nicht etwa bestraft, sondern zum General befördert. Sprecher einer großen Soldatenlobby hatten schon vorher dagegen protestiert, dass wir Antifaschisten z.B. die Mörder aus der Gebirgstruppe mit Demonstrationen noch im letzten Jahrzehnt entlarvten und eine Bestrafung forderten. Erklärt wurde, die Soldaten würden verunsichert, wenn »Überreaktionen« bestraft würde, wie sie nun mal vorkommen könnten und auch bei den Amis vorkämen.
Verjährung der Morde. Oder doch nicht?
Nachdem die Alliierten den Deutschen die Rechtshoheit übertragen hatten, geschah lange Zeit nichts. Keine Verurteilung von Naziverbrechern, oder doch nur wenige. Irgendwann hieß es: die Morde sind verjährt. Dagegen richteten sich die Aktionen der VVN über lange Jahre. Sie wurden durch das antifaschistische Wirken ihrer Kameraden im Ausland unterstützt. Unzählige große Demonstrationen und kleinere Aktionen fanden statt. Als dann die endgültige Verjährung heranreifte, steigerten Antifaschisten in aller Welt ihren Protest. Die Festlegung »Mord verjährt nie« aus dem Jahr 1979 war der größte Sieg der Antifaschisten, der 45er Opfer über die 49er Täter seit Gründung der Republik.
Verbot der KPD
Das Verbot der KPD von 1956 gilt noch heute. Dass die DKP entstand und sich hielt, ist eine demokratische Errungenschaft. Gegen das KPD-Verbotsurteil anzugehen, wie es die VVN tat, bleibt bis heute ein demokratischer Auftrag. Ab 1972 gab es Berufsverbote gegen die Kommunisten und andere Linke. Formuliert wurden die entsprechenden Verordnungen durch alte Nazis. Diese widersetzten sich sogar den Anordnungen von Ministern, wenn diese vermeintlich nicht rigoros genug gegen jene vorgingen, die Anlass zu »Zweifeln« an der Verfassungstreue« boten.
Sogar die VVN wurde in manchen Bundesländern für Jahre verboten. Als die Adenauerregierung darauf drängte, die bundesweite Organisation der VVN zu verbieten, wehrte diese sich, indem sie eine Dokumentation über die Nazivergangenheit der zuständigen Verwaltungsrichter vorlegte. Aufgrund internationalen Aufsehens wurde der Prozess gegen die VVN vertagt – und bis heute nicht wieder aufgenommen.
Wofür wir immer stritten, wird nun doch noch wahr: Jetzt werden neue Verfahren gegen alte Täter angestrengt. Doch das beseitigt das alte Unrecht nicht. Vor allem werden immer noch nicht jene belangt, die für Strafbefreiung und hohe Pensionen für Nazis in all den Jahrzehnten sorgten. Sie sie schulten eine Generation von Geheimdienstlern und Polizisten, die sich nicht vorstellen konnten und wollten, dass es einen terroristischen Nationalsozialistischen Untergrund gibt. Sie sahen das Übel nur links und ließen rechts alle Blumen blühen. Und deshalb ist es richtig, die Prozesse gegen Nazitäter auch heute noch zu führen. Was wir dafür leisten konnten, haben wir beigetragen: Dokumentationen wurden herausgegeben und Zeitzeugen sprachen auf unzähligen Veranstaltungen.
Der Schwur von Buchenwald für die Ausrottung des Nazismus mit seiner Wurzel und der Artikel 139 GG über den Fortbestand der antinazistischen Rechtssprechung von nach 1945, sie gelten weiter.
Dafür müssen immer neue Mitstreiter nachrücken. »Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig«, heißt es im Schwur von Buchenwald.