Befremdliche Blackouts
24. März 2014
antifa-Gespräch mit Wolf Wetzel über staatliches Handeln und den NSU
antifa: Im Zusammenhang mit der Fahndung nach den Mitgliedern des NSU reiht sich Panne an Panne. Wie erklärst du dir das?
Wolf Wetzel: Der Begriff Panne soll ja suggerieren, dass all dies ohne eigenes staatliches Zutun, ohne Vorsatz, ohne Anweisung, ohne Deckung der parlamentarischen und politischen Kontrollgremien passiert ist – über dreizehn Jahre lang. Wenn dies so gewesen sein soll, stellt sich doch die Frage, warum sich diese Pannenserien nur sektorial, im Bereich des Neonazismus abgespielt haben? Warum hat zur selben Zeit alles funktioniert, wenn es z.B. um die Durchsetzung der Neonaziaufmärsche in Dresden 2010-2013 ging? Dort arbeiteten alle Behörden, auf allen Ebenen pannenfrei zusammen!
Schauen wir uns also den sektorialen Blackout genauer an: 1998 wurde bei den späteren NSU-Mitgliedern eine konspirative Adress- und Telefonliste in einer Garage in Jena gefunden: Ein Who is Who der Neonaziszene, auf die der NSU zurückgreifen konnte. Dieses Beweismittel, das in etwa der Sicherstellung eines Personalausweises am Tatort entspricht, wurden von Spezialisten auf dem Gebiet »Rechtsextremismus« für unbedeutend erachtet und in die Asservatenkammer gelegt. Wer hier also von einer Panne redet, deckt keine Unachtsamkeit, sondern die Beseitigung eines wichtigen Beweismittels. Damit wurde nicht nur eine Verfolgung der abgetauchten Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes/THS verhindert. Man wollte mit dem Verschwindenlassen dieses Beweismittels einen noch viel schwerwiegenderen Umstand verdecken: Auf der »Garagenliste« befanden sich auch vier namentlich bekannte V-Männer! Das heißt ganz konkret: Am Zustandekommen eines neonazistischen Untergrundes waren auch mehrere V-Männer verschiedener Behörden beteiligt.
antifa: Beim Mord in Kassel war ein Verfassungsschutzbeamter zur Tatzeit in dem Internetcafé. Was gibt es für Erklärungen?
Wolf Wetzel: Lassen wir einmal die abstruse offizielle Erklärung, der V-Mann-Führer Andreas Temme wäre zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, für kurze Zeit gelten. Warum klären dann nicht alle Behörden den unglücklichen Zufall lückenlos auf? Warum raten ihm seine Vorgesetzten mit Blick auf seine Zeugenvernehmung, »so nah wie möglich an der Wahrheit« zu bleiben? Warum werden die Akten nicht lückenlos, also vollständig als Beweismittel in den Prozess in München eingeführt?
Die Tatsache, dass ein mit neonazistischem Gedankengut verbundener V-Mann-Führer einen Neonazi in Kassel »führte« ist keine Panne, sondern eine Unerträglichkeit. Dass seine Vorgesetzten Andreas Temme für anstehende Zeugenvernehmungen präparieren, also zu Falschaussagen ermutigen, lässt erahnen, dass es um mehr als um einen V-Mann-Führer geht. Ich kenne die »Wahrheit«nicht, ich weiß nicht, was Andreas Temme tatsächlich zur Tatzeit gemacht hatte. Aber es reicht, wenn wir aktenkundig wissen, dass der V-Mann-Führer und seine Vorgesetzten selbst Straftaten im Amt begehen, damit die »Wahrheit« nicht herauskommt.
antifa: In Stuttgart ist ein Aussteiger aus der rechten Szene nur wenige Stunden vor der Aussage vor der Ermittlungsgruppe Umfeld in seinem Auto verbrannt. Die Polizei sprach nach kurzer Zeit von Selbstmord. Florian H. hatte davor bereits von einer zweiten Terrorgruppe mit dem Namen »NSS« berichtet. Warum zweifelst du die offizielle Version an?
Wolf Wetzel: Ich zweifele die offizielle Version nicht an, ich halte sie für vorsätzlich, geradezu bodenlos falsch. Die Polizei wusste bereits einen Tag nach dem Tod von Florian H., dass es sich um einen Suizid handelte, acht Stunden vor seiner geplanten Zeugenvernehmung, in der er seine Mitte 2011 gemachten Aussagen bestätigen und ergänzen wollte: Es gebe eine weitere neonazistische Terrorgruppe namens NSS in Baden-Württemberg, die Verbindungen zum NSU hatte. Und: Am Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 waren Neonazis beteiligt. Nach Angaben der Ermittler habe sich Florian H. aus »Liebeskummer« qualvoll, um 9 Uhr früh, in seinem Auto, selbst verbrannt. Dieses Motiv wollen sie aus dem »familiären Umfeld« erfahren haben. Wenn man zum »familiären Umfeld« die Eltern, die Tochter und die damalige Freundin von Florian H. zählen darf, dann kann man eines ganz sicher feststellen: Das angebliche Motiv ist erstunken und erlogen. Das Motiv für einen Selbstmord ist also eine reine Erfindung der Ermittlungsbehörden. Die Motive für einen Mord sind hingegen evident:
Die Wiederholung dieser gemachten Aussagen haben nicht nur Neonazis als Bedrohung verstanden. Die Wiederholung dieser Aussagen hätte vor allem die Behörden in Baden-Württemberg bloßgestellt, die bis zum heutigen Tage behaupten, sie hätten von der Beteiligung von Neonazis am Mordanschlag in Heilbronn, von der Existenz des NSU und seine engen Verbindungen nach Baden-Württemberg bis zum »Auffliegen« des NSU 2011 nichts gewusst.
Die Fragen stellte Janka Kluge