Autoritäre Tendenzen
16. September 2014
Der Rechtsradikalismus in Europa besitzt objektive Wurzeln
Im August 2013 wurde ein Partner Glenn Greenwalds, jenes Journalisten, der Edward Snowden geholfen hat, seine Enthüllungen über die NSA-Spitzelpraktiken in die Öffentlichkeit zu bringen, am Londoner Flughafen Heathrow mit Verweis auf die Anti-Terrorgesetzgebung verhaftet. Befragt, wieso diese Gesetzgebung auf seinen Fall angewendet wurde, erklärte ein englischer Regierungssprecher, dass die Veröffentlichung der NSA-Materialien‚ die Absicht hatte, die Regierung zu beeinflussen und ein politisches oder ideologisches Programm zu befürworten. Daher fiele es unter die Definition von »Terrorismus«.
Hier wird ein Muster sichtbar, wie die Freiheit der Bürger immer neuen Restriktionen unterworfen wird. Schrittweise wird ein Netz von Repression gesponnen, dabei können wir drei Aspekte unterscheiden.
Der erste, schon genannte ist, dass besonders seit den Anschlägen von 9/11 der Begriff des Terrorismus ausgeweitet worden ist, so dass er heute wesentlich alle Formen von außerparlamentarischer Opposition umfasst. War dieser Begriff bisher im Wesentlichen ein Terminus, der von Besatzungsmächten benutzt wurde (von den Nazis gegenüber dem bewaffneten Widerstand, bis zu Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten), so ist er mittlerweile von beinahe allen Regierungen in der Welt eifrig aufgegriffen worden, um prinzipielle Opposition zu delegitimieren, bzw. zu kriminalisieren.
Hier spielt mit hinein, dass seit den 80er Jahren die Infrastruktur eines dauerhaften Notstandes ausgearbeitet wurde. In Folge der Anschläge von 9/11 wurde diese lange geplante Notstandsregierung, mit einer zusätzlichen Gesetzgebung (dem Patrioten-Gesetz), dann eingeführt, und auch in Europa wurden verschiedene derartige Gesetze erlassen..
Die NSA-Enthüllungen haben klar gezeigt, dass die Einschüchterung der Bevölkerung durch diese und vergleichbare Maßnahmen durch eine genaue – im Prinzip umfassende – Überwachung abgesichert wird.
Zweitens korrespondiert mit dieser Entwicklung eine Tendenz in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in der sich immer weniger Menschen immer größere Teile des Nationaleinkommens und -besitzes aneignen. Seit 1991 hat sich die Zahl der Menschen, die von ihrer Arbeit leben müssen, im Weltmaßstab auf rund drei Milliarden beinahe verdoppelt. und dies hatte wiederum eine radikale Flexibilisierung der Arbeitsumstände und Senkung der Löhne zur Folge. Die damit verbundene Liberalisierung der Märkte überhaupt, inklusive der Privatisierung von öffentlichen Betrieben und Diensten, befördern gleichzeitig das Abfließen großer Geldsummen in Richtung derjenigen Geschäftsnetzwerke (Banken und Investmentfonds aller Art), die diese Prozesse zum größten Teil kontrollieren. Dabei sollte auch in den Blick genommen werden, dass heute etwa die Hälfte aller Kapitalbewegungen in der Weltwirtschaft über Offshore-Inseln läuft, und so die Steuerzahlung umgeht, mit dem die öffentlichen Dienste für die lohnabhängige Bevölkerung finanziert werden müssen. Solche Möglichkeiten zur schnellen Bereicherung sind noch nie da gewesen; dennoch können diejenige Teile der Mittelklassen, die in den 1980er und 90er Jahren noch in einen auf steigenden Immobilienwerten beruhenden Klassenkompromiss einbezogen waren, ihren Wohlstand heute nur mit großen Anstrengungen bewahren.
Zum dritten werden diese Tendenzen (Verstärkung des Staates und Einengung bürgerlichen Freiheiten einerseits, Plutokratisierung und Ungleichheit andrerseits) komplettiert von einem Anwachsen des Rechtsradikalismus bzw. Neofaschismus. Dies sollten wir nicht als Teil eines großen Plans auffassen, denn die objektiven Ursachen sind klar, ohne dass dabei von irgendeiner Verschwörung die Rede zu sein braucht. Denn von der Arbeitsmarktkonkurrenz der ‚drei Milliarden’ untereinander, von denen ein Teil innerhalb im Abbau begriffener Wohlfahrtsstaaten lebt, wo sich billige Arbeitskräfte von »sonstwo« als Flüchtlinge aller Art (wirtschaftlich, politisch, ökologisch…) anbieten, folgt beinahe von selbst, dass ein Teil der in seinen Lebenschancen bedrohten Bevölkerung dem falschen Lockruf der Neonazis folgt; gerade wenn der repressive »Terrorismus«-Reflex mithilft, gewisse Bevölkerungsgruppen unter Verdacht zu stellen, und damit wiederum das Programm der Rechtsradikalen praktisch unterschreibt.
Auch dass die Situation in Teilbereichen in den verschiedenen europäischen Ländern anders ist, und man die Gemeinsamkeiten nur sehen kann, wenn die verschiedenen Prozesse als ein Ganzes gesehen werden, erschwert eine adäquate Antwort. Dies alles macht klar, dass Neofaschismus und Rechtsradikalismus in Europa nicht nur mit moralischer Empörung und Verurteilung, sondern mit vertieften Analysen bekämpft werden müssen. Nur dann können wir hoffen, neben der Verteidigung der Menschlichkeit auch eine realistische Alternative bieten zu können.