Frühe Begegnung

geschrieben von Kurt Pätzold

13. November 2014

Eine Erinnerung an Kurt Goldstein anlässlich seines 100. Geburtstages

 

Im Jahre 1945 verschlug es mich von Schlesien über Zwischenstationen nach Thüringen und in die Stadt Weimar. Noch am Tage meines Eintreffens geleitete mich mein Vater, der da früher schon angekommen war, zum Hause der Frau von Stein und verabschiedete sich von mir mit den Worten, da seien »die Richtigen« drin. Ich stieß im Innern, dessen Einrichtung deutlich an ein früheres Hitlerjugendheim erinnerte, wie ich erwartet hatte, zwar auf eine Gruppe junger Leute, doch diskutierten die nicht, sondern übten sich im Volkstanz nach dem Lied von den Leinewebern, die eine saubere Zunft gehabt haben sollen. Das war indessen nicht ihre Hauptbeschäftigung, wie die folgenden Zusammenkünfte zeigten.

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Im Haus der Jugend in der Stadtmitte, wo sich auch die Büros der sich formierenden Antifaschistischen Jugend befanden, gab es wöchentlich Schulungsabende. Die bestritten Antifaschisten, von denen viele als letzte Station ihrer Gefangenschaft Buchenwald überlebt hatten. Stefan Heymann, der später u. a. Botschafter der DDR in Polen war, Walter Wolf, zeitweilig Landesdirektor für Volksbildung in Thüringen, später Professor in Jena und Potsdam, und Kurt Goldstein. Wir, ihre Zuhörer, zählten in jenem Frühherbst nicht mehr als allenfalls eineinhalb Dutzend Mädchen und Jungen.

In diesen Umständen also begegnete ich Kurt zum ersten Mal. Er war der für die Jugendarbeit der Kommunistischen Partei zuständige Mann und »residierte« im Sitz der Landesleitung in der Schwanseestraße unterm Dach in einem kleinen Zimmer mit schrägen Wänden. Dort und auch in seinem Domizil, einem Zimmer im nahe dem Bahnhof gelegenen Hotel, das damals »Germania« hieß, trafen wir aufeinander. Diese Begegnungen waren stets mit Anregungen und Aufträgen verbunden. Einer lautete, für die »Kinder Berlins« Äpfel zu sammeln. Also machten wir uns auf – nach Oßmannstedt. Und brachten tatsächlich Früchte mit, die an den Toren von Bauersgehöften leicht nicht zu erbitten waren. Doch hätten wir einfach auch ein schlechtes Gewissen gehabt, vor Leute gleichsam mit leeren Händen zurückzukommen, von denen wir mehr ahnten denn wussten, was hinter ihnen lag.

Denn: Ihr Erleben in Buchenwald? Das bildete kein Thema unserer Gesprächsabende mit jenen Menschen, die am Anfang unseres Weges in den Antifaschismus standen, uns gedanklich Türen öffneten, von denen wir bis dahin nicht gewusst hatten, dass es sie überhaupt gab. Und dieses Beschweigen der eigenen Erinnerung blieb bei Kurt und den Anderen lange so. Und wir? Wir trauten uns nicht nachzufragen, sondern lasen die ersten Broschüren, die über das Lager auf dem Ettersberg auf dem schmalen Literaturmarkt erschienen.

Kurt war der Lenker der antifaschistischen Jugendarbeit in Thüringen, unterwegs zwischen Schleiz und Schmalkalden. Für zwei Episoden ist hier Platz, die etwas über den Stil seiner Arbeit aussagen. In den letzten Tagen 1945, das war seine Idee, fand die erste antifaschistische Jugendkonferenz Thüringens in Gera statt. Der Fest- und Tanzsaal aus Kaiserszeiten war gefüllt. Als ein Hauptredner sprach ein evangelischer Pfarrer, der die Rolle seiner Kirche etwas stärker aufhellte, als wir sie in Erinnerung hatten. Es gab Proteste. Am Ende griff auch Kurt ein, nicht versöhnend, aber dämpfend. Dann weihten wir ein Jugendheim ein. Das erhielt den Namen der Geschwister Scholl. Kurt hatte ihn gegen den Vorschlag, es nach Ernst Thälmann zu benennen durchgesetzt.

Und das war nicht der einzige Fall, in dem ich ihn als einen Politiker erlebte, der seine Überzeugung verfocht und zugleich nach Zwecken und Wirkungen fragte. Wenig später war ich Schüler einer Internatsschule auf dem Thüringer Wald. Wir, ein halbes Dutzend Schüler, durchweg Kinder von Antifaschisten, hatten im Januar 1946 dort eine der neuen Jugendgruppen gegründet. Die Idee einer Wandzeitung wurde geboren. Wir hatten uns für sie einen besonders rrrrevolutionären Titel ausgedacht. Kurt, der auf einer seiner Reisen in Wickersdorf halt machte, hörte sich unseren Vorschlag an. Dann meinte er, wir sollten doch lieber den Titel »Die Funzel« wählen und ihn als Programm verstehen, aufzuspüren und aufzuspießen, was im Leben dieser Schulgemeinde kritikwürdig sei. So wurde sie dann auch getauft. Denn Kurt war, wie sage ich es in einem Wort? Ein Überzeugender.