Ohne Hoffnung auf Verstand

geschrieben von Thomas Willms

22. April 2015

Bandera und die Geschichte des ukrainischen Nationalismus

 

Hätte man die monumentale, tiefschürfende und quellengesättigte Darstellung der Geschichte des ukrainischen Nationalismus des in Polen geborenen und in Berlin lebenden Historikers Rossolinski-Liebe schon 2013 gekannt, hätte man sich über den kurz danach ausgebrochenen ukrainischen Bürgerkrieg nicht mehr gewundert, sondern ihn vielmehr erwartet. Das Werk endet nämlich mit der detaillierten Auflistung von Denkmalserrichtungen für Stepan Bandera einerseits und solchen für die Opfer der von ihm angeführten »Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) andererseits. Die Ortsnamen für letzteres heißen Simferopol und Luhansk, für erstere Kiev und Orte westlich davon.

Grzegorz Rossoliński-Liebe: Stepan Bandera. The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist. Fascism, Genocide and Cult, Stuttgart 2014, 652 Seiten, 39,95 €

Grzegorz Rossoliński-Liebe: Stepan Bandera. The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist. Fascism, Genocide and Cult, Stuttgart 2014, 652 Seiten, 39,95 €

Ausgehend von einer terroristischen Vorläuferorganisation entwickelte sich die OUN auf dem Gebiet des Zwischenkriegs-Polens, der sogenannten »Zweiten Republik«, dem damals die westlichen (galizischen) Teile der heutigen Ukraine zugehörig waren. Dieses Polen ist heute völlig vergessen und nur noch schwer vorstellbar. Es war ein Vielvölkerstaat, seiner eigenen Grenzen und inneren Verfasstheit unsicher, stark orientiert auf den Staatsgründer, Marschall Józef Piłsudski. Nach dessen Tod 1935 ging der Weg dieses Staates nach rechts und der in seinen Grenzen operierenden OUN noch viel mehr. Wenn überhaupt eine der zahlreichen faschistischen Organisationen Europas den Vergleich mit der NS-Bewegung aufnehmen konnte, dann sie. Ihr Ziel war die gewaltsame Gründung eines ukrainischen Staates unter ganz bestimmten Vorgaben. Die Staatsgründung sollte einhergehen mit einer »Säuberung« von Polen, Juden und Russen als Voraussetzung zur Reinheit der »ukrainischen Rasse«. Einzige politische Kraft sollte die OUN unter ihrem »Providnyk« (Führer) Stepan Bandera sein. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre entfachte die OUN dafür eine Welle der Gewalt gegen polnische Bauern, Lehrer und Beamte, die vom für ukrainisch deklarierten Land vertrieben werden sollten. Ihre große Stunde schlug jedoch erst mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen und zwei Jahre danach auf die Sowjetunion. Die Deutschen wurden heiß ersehnt, ihr Führer und seine Armee bewundert und die konkrete Zusammenarbeit eingeleitet. Eine Unterstützung der Staatsgründung, wie im Falle der Slowakei und Kroatiens, wurde erwartet. Systematisch bereitete man sich vor und deklarierte im Gefolge der Deutschen in L‘viv am 30. Juni 1941 endlich den erhofften Staat. In den Wochen danach begann man damit, den Deutschen teilweise vorauseilend, in den von den Sowjets verlassenen Gebieten die neue Ordnung zu errichten. Unmittelbarer Ausdruck davon war der Mord insbesondere an Juden, für den man sich gerne festlich ukrainisch-folkloristisch anzog. 1943 führte die Wende des Krieges zur höchsten Entfaltung der OUN und zur Gründung der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) und ihres Geheimdienstes SB. Von den Deutschen ohnehin enttäuscht – Bandera selbst wurde im KZ Sachsenhausen in »Ehrenhaft« interniert – die gar nicht daran dachten, irgendeinen anderen Nationalismus wirklich zu fördern, erwartete die OUN nunmehr die Niederlage Hitlers. Die Zeit bis dahin nutzte man, im Staatsgebiet nun selbst im Stil der deutschen Einsatzgruppen, Polen und überlebende Juden auszurotten. Massenhaft wurden entsetzliche sadistische Verbrechen verübt, 70.-100.000 Polen oder für »polnisch« Erklärte umgebracht.

1945 erzwangen die Sowjetunion und die von ihr neugegründete polnische Volksrepublik einen massenhaften Bevölkerungsaustausch. Paradoxerweise hatte der moskowitische Urfeind der OUN damit den zweiten bevölkerungspolitischen Traum der OUN erfüllt, nachdem die Deutschen die Juden in Galizien nahezu ausgelöscht hatten. Es blieb als drittes, die Vertreibung der Russen in die Wege zu leiten, was die OUN/UPA/SB auf sowjetischem Territorium bis Anfang der 50er Jahre in einem extrem grausamen Guerilla-Krieg zu verwirklichen suchte. Währenddessen flutete ein beträchtlicher Teil der Kader mit den Deutschen nach Westen, emigrierte danach ins westliche Ausland oder blieb in Bayern. Der Providnyk und seine Gefolgschaft vereinigten sich in München wieder. In der bayrischen Diaspora spalteten sich die Nationalistengruppen und bekämpften sich mit Entführungen, Folter und Mord gegenseitig. Von etwa 100 Toten gehen die Polizei-Unterlagen aus, was westliche Geheimdienste jedoch nicht hinderte, die Szene zu finanzieren und auszunutzen. Die Ermordung Banderas durch den sowjetischen Geheimdienst 1959 machte ihn endgültig zum Märtyrer und Helden der antikommunistischen Diaspora, die nie die Hoffnung auf den Zusammenbruch der UdSSR aufgab. Zögerlich, beginnend ab Ende der 1980er Jahre und in triumphaler Form nach 1991 wurde der Bandera-Kult in die Heimat reimportiert und kam doch nicht viel weiter als bis Kiev.

In den letzten Kapiteln des Buches werden die Namen von Politikern und Organisationen, die R.L. nennt, immer gegenwärtiger. Für und wider Bandera zu sein, den gewissenlosen und eiskalten Demagogen, der in seltsamer Umkehrung der Sowjetterminologie zum »Helden der Ukraine« erklärt wurde, geriet zum Erkennungszeichen der Gesinnung. Danach kam nur noch der Bürgerkrieg. Man muss dankbar sein für dieses Buch.