Eindrücke aus Moskau
11. Juli 2015
Russische Erinnerung an den »Tag des Sieges«
Die Erinnerung an den »Großen Vaterländischen Krieg« hat auch im heutigen Russland einen hohen Stellenwert. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass eigentlich alle Familien in dem Land von damals 170 Mio. Einwohnern Opfer im Kampf gegen die faschistische Okkupation zu erbringen hatten. 27 Mio. Tote und eine ähnlich große Zahl an Kriegsgeschädigten macht die enorme Betroffenheit deutlich. Alle politischen Veränderungen konnten dieser gesellschaftlichen Erinnerung nichts anhaben, anders als in den Staaten, die aus der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen sind und nun eine eigene politische und historische Identität suchen. Das Ergebnis dieser hohen Bedeutung wurde 2015 erneut eindrucksvoll sichtbar.
Die Vorbereitung der Gedenkveranstaltungen zum »Tag des Sieges« ist in Russland auf höchster politischer Ebene angesiedelt. Das Komitee »Pobjeda« (Sieg), das die Veranstaltungen russlandweit koordiniert, steht offiziell unter dem Vorsitz von Präsident Putin und dem Vorsitzenden der Russischen Union der Veteranen. Bereits Mitte 2014 wurden die Grundlinien der geplanten Aktivitäten beschlossen und staatliche Mittel und Ressourcen dafür bereitgestellt. Für das Jahr 2015 wurden mehrere Großereignisse konzipiert, die deutlich machen, wie sich die gegenwärtige politische Führung die Stafetten-Übergabe der Erinnerung vorstellt. So wurden zum 9. Mai nicht nur zentrale Veranstaltungen in Moskau, sondern auch in allen Teilrepubliken und insbesondere in den »Heldenstädten« des Krieges geplant. Das Komitee konzipierte und organisierte Treffen und Konferenzen für Veteranen, Aktionen für die jungen Generationen, internationale Begegnungen der Kriegsteilnehmer und repräsentative Veranstaltungen mit ausländischen Gästen, die große Parade auf dem Roten Platz unter Teilnahme von Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges und militärischer Verbände verbündeter Staaten sowie den Marsch der Angehörigen, bei dem die Fotos von Familienangehörigen, die im Krieg gefallen oder verwundet wurden, gezeigt wurden und an dem in diesem Jahr allein in Moskau etwa 300.000 Menschen teilnahmen – unter anderem Präsident Putin mit einem Bild seines Vaters.
Die FIR in Moskau
Für die FIR und ihre Mitgliedsverbände fand bereits Ende März auf Einladung der Union der russischen Veteranen eine zweitägige internationale Konferenz in Moskau statt. Trotz aller Probleme in den Beziehungen Russland-EU im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise und weiterer Schwierigkeiten in der Reiseorganisation nahm eine ansehnliche Zahl internationaler Gäste an dieser Konferenz teil, wobei insbesondere die Veteranenverbände der ehemaligen Sowjetrepubliken, aus der Mongolei, aber auch Bulgarien, der Slowakei, Tschechien und fast aller Nachfolgestaaten Jugoslawiens vertreten waren. Aus Belgien, Deutschland, Italien und Ungarn kamen weitere antifaschistische Verbände hinzu sowie andere Institutionen aus Staaten der EU.
Die Konferenz wurde von hochrangigen Vertretern des Staates und des Militärs begrüßt. Der Leiter des Präsidentenbüros unterstrich in seiner Grußansprache die große gesellschaftliche Bedeutung der Erinnerung an den 9. Mai 1945. Eröffnet wurde die Tagung mit militärischem Zeremoniell durch eine Militärkapelle und das Hissen der Traditionsfahnen. Nicht nur an diesem Punkt wurde sichtbar, in welch enger Kooperation der Veteranenverband mit dem Verteidigungsministerium arbeitet. Die Dolmetscher waren Offiziersanwärter aus der Militärhochschule, die Helfer im Hintergrund waren Soldaten und verschiedene zeremonielle Aktivitäten wurden begleitet durch militärische Ehrenformationen und Militärmusikgruppen.
In seiner Eröffnungsansprache betonte der Vorsitzende des russischen Veteranenverbandes, Armeegeneral Michail A. Moiseev, dass diese Tagung für Russland die erste internationale Konferenz von Verantwortlichen der militärischen Veteranenverbände, von Veteranen der Widerstandsbewegung, Mitkämpfern der Anti-Hitler-Koalition sowie ehemaliger Häftlinge der faschistischen Konzentrationslager und Ghettos sei. Die Antifaschisten nachgeborener Generationen, die in verschiedenen Ländern bereits zum Kern der gesellschaftlichen Organisation gehören und Verantwortung für die Weitergabe der historischen Erfahrungen übernommen haben, erwähnte er erst im weiteren Verlauf seiner Rede.
In seinem substanziellen Referat zeichnete er die Gefahren der gegenwärtigen internationalen Entwicklungen nach, insbesondere die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der EU vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das politische Handeln auch der Veteranenverbände. Er betonte, dass die Regeln der internationalen Zusammenarbeit, wie sie 1945 durch die Gründung der Vereinten Nationen und das Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal fixiert wurden, auch heute Gültigkeit haben. Zum Abschluss seines Referates rief er die Teilnehmenden auf, eine neue »gemeinsame antifaschistische Front« zu schaffen, da in der gegenwärtigen Situation die Gefahr von Neofaschismus und vergleichbarer Entwicklungen real sei und zunehme.
Russische Perspektiven
Aus deutscher Perspektive irritierend war seine Auflistung der gesellschaftlichen Phänomene, die er dem Neofaschismus zuordnete. Für ihn findet sich der heutige Neofaschismus nicht allein bei den Nazi-Anhängern und religiösen Fundamentalisten, sondern auch in der Praxis einer hegemonialen Dominanz gegenüber selbstständigen Staaten, einem »liberalen Terror« unter dem Deckmantel der »Menschenrechte« und in der Zerstörung traditioneller Werte, Moralvorstellungen und der Familie. Übereinstimmung gibt es sicherlich in der Einschätzung, dass Faschismus die Verstärkung militaristischer Tendenzen in der globalen Politik bedeute. Jene gesellschaftlichen Kräfte, die Hitler an die Macht gebracht haben, existierten auch heute noch – und sie seien bereit, einen Dritten Weltkrieg vorzubereiten.
Bemerkenswert war, dass General Moiseev in seinem Referat der Arbeit sowjetischer bzw. russischer Veteranen im Rahmen der FIR einen breiten Raum gab. Er nannte hochrangige Repräsentanten und betonte, dass man deren verdienstvolle Arbeit fortsetzen werde. Damit war klar, dass die »antifaschistische Front« keine neue Organisation werden sollte, sondern die Plattform der transnationalen Zusammenarbeit insbesondere mit den Veteranen der ehemaligen Sowjetrepubliken.
Die meisten der dann folgenden Beiträge auch der Gäste der internationalen Verbände waren – in alter sowjetischer Tradition – eher eine Bilanz erfolgreicher Arbeit oder eine Erinnerung an die heroischen Leistungen der jeweiligen Veteranen, jedoch weniger eine Debatte über heutige und zukünftige Aufgaben der Veteranenverbände. Nur ein Thema bewegte alle Gemüter, nämlich die Auseinandersetzung mit Geschichtsrevisionismus sowie Rehabilitierung von SS-Verbänden und Nazi-Kollaborateuren in verschiedenen osteuropäischen Ländern. Hier waren die Statements deutlich und aktuell. Leider fehlten Berichte über den praktischen Kampf gegen solche Tendenzen.
Einzelne gesellschaftliche Initiativen zum »Tag des Sieges« stellten sich vor. Junge Leute erbaten bei den Konferenzteilnehmern Statements zu Frieden und Antifaschismus, die sie auf Papiertauben festhielten. Auch die »Vereinigung der Kinderhäftlinge in den faschistischen Konzentrationslagern«, die unter dem Dach des Veteranenverbandes ihre Kontaktadresse hat, stellte ihre Arbeit vor und warb um Unterstützung für ihr Anliegen. Die Aktualität des Ukraine-Konflikts zeigte sich ebenfalls kurz auf der Konferenz, als eine Duma-Abgeordnete der Krim unter großem Beifall als Ehrengast begrüßt wurde. Am späten Nachmittag schloss die Konferenz wieder mit militärischem Zeremoniell.
Präsentation der FIR-Ausstellung
Durchaus gleichwertig mit der Konferenz stand der zweite Tag. Beginnend an der Kreml-Mauer am Grabmal des unbekannten Soldaten und den Stelen für die »Heldenstädte« fanden an verschiedenen Orten zeremonielle Erinnerungen statt. Eindrucksvoll wurde dies im Park und Zentralmuseum des »Großen Vaterländischen Krieges« sichtbar. Die Teilnehmer legten Kränze an den Denkmälern der Verteidiger Moskaus, der Kämpfer der Anti-Hitler-Koalition und – wiederum mit militärischer Begleitung – an der »ewigen Flamme« nieder, bevor im Foyer des Museums die Ausstellung »Europäischer Widerstand gegen den Nazismus« eröffnet wurde. Es war ein positives Signal an die FIR und die Kooperation mit dem »Institut des Vétérans«, dass diese Ausstellung mit Botschaftspost von Brüssel nach Moskau gebracht im Zentralmuseum ohne weitere Auflagen für vier Wochen gezeigt werden konnte. Jean Cardoen (Institut des Vétérans) und General Moiseev hielten die Ansprachen bei der Eröffnung.
Anschließend erlebte man konkret, in welch ritualisierten Formen die Weitergabe der Erinnerungen in Russland gedacht wird. Für diejenigen, die mit sowjetischen Ritualen weniger vertraut waren, nahmen die Konferenzteilnehmer überraschend nicht nur als Beobachter an einer Zeremonie zur Übergabe von Ehrenzeichen an junge Kadetten teil, sondern sie waren gehalten, diese Orden den jungen Menschen zu übergeben. Es war in jeder Hinsicht eine bewegende Veranstaltung, musikalisch und kulturell hochwertig begleitet, die sichtbar machte, wie hier staatsoffiziell eine Traditionsweitergabe gesehen wird. Den Jugendlichen wird diese Feier sicherlich in Erinnerung bleiben.
Natürlich gab es auch Debatten zwischen den antifaschistischen und Veteranenverbänden. Diese fanden jedoch zumeist im informellen Rahmen und im direkten Meinungsaustausch bei Gesprächen am dritten Tag zwischen den Verbänden statt. Dort wurden auch Kontroversen angesprochen, bzw. praktische Arbeitsvorhaben vereinbart. Im Plenum kamen solche Punkte nicht zur Sprache.
Das erlebnisreiche Wochenende, an dem die VVN-BdA mit ihrem Vorsitzenden Axel Holz vertreten war, machte zwei Dinge deutlich: Die Erinnerungen an den »Großen Vaterländischen Krieg« und die Verdienste der Roten Armee sind in Russland gesellschaftlich präsent und werden staatlich gefördert. Die ritualisierten Formen der Traditionspflege sind aus unserer Sicht gewöhnungsbedürftig. Die Zivilgesellschaft ist in diesem Bereich noch nicht erkennbar.