Gedanken zu einer Reise
9. Juli 2015
Lena Sarah Carlebach fuhr mit dem »Zug der 1000« nach Auschwitz
Wie bereitet man sich angemessen vor auf eine Reise nach Auschwitz? Ich bin etwas ratlos. -Au-sch-witz, der Inbegriff des Holocaust, die Hölle, das, was man sich nie vorzustellen vermag.
Der Alltag hält mich noch gefangen, Seminare und Vorlesungen an der Uni, die Arbeit, bis kurz vor der Abfahrt nach Darmstadt – dort wird mich, sofern alles nach Plan verläuft, um 01:24 Uhr am Mittwochmorgen, dem 6. Mai, ein Zug einsammeln. Mich und andere Interessierte, vor allem Schülerinnen und Schüler, aus Deutschland.
Mit beinahe 1000 anderen Jugendlichen nehme ich Teil am internationalen Projekt »Zug der 1000«, organisiert vom Institut des Vétérans aus Belgien, der Auschwitz Stiftung und der FIR. Fünf Tage lang werden wir in Polen sein, um uns die Gedenkstätte Auschwitz anzusehen.
Im Zug angekommen sind wir ziemlich platt und versuchen sogleich, halbwegs gemütliche Positionen zum Schlafen zu finden. Das ist gar nicht so einfach, zu viert oder fünft in einem Abteil. Ich grübele noch ein wenig in die Nacht hinein.
Natürlich, Auschwitz kennt man, man hat darüber gelesen, davon gehört. Ich erinnere mich, nicht recht gewusst zu haben wohin ich schauen sollte, wenn ich Menschen getroffen habe, die das Lager überlebt hatten – aus Scham, dass sie so etwas erleben mussten, aus Ohnmacht. Und nun sitze ich im Zug auf dem Weg dorthin.
Ich wache auf und sehe Bäume an mir vorbei-sausen. Manchmal ruckelt es ein wenig, und etwas Zeit brauche ich, um zu realisieren, wo ich bin. Den anderen scheint es ähnlich zu gehen.
Der eine oder andere vermisst die Dusche am Morgen, die meisten arrangieren sich aber schnell und bilden Reihenfolgen, in denen »ins Bad« gegangen werden kann – sprich, sich auf der Zugtoilette die Zähne putzen.
Erst jetzt wird einem bewusst, wie groß der Zug ist, mit seinen 16 Waggons und wie viele Menschen wir darin sind. Schülerinnen und Schüler aus ganz Europa sind mit an Bord, an den Abteilen vorbeischlendernd sehen ich die portugiesische Flagge, einige Italiener hört man Partisanenlieder singen. Sogar eine junge Frau aus Südamerika soll mit auf der Reise sein.
Früher oder später läuft jeder mal nach vorne in den Speisewagen. Hier bekommen wir Schokoladencroissants, Kaffee und Orangensaft zum Frühstück. Eine logistische Meisterleistung, so viele Menschen mit Nahrung und Getränken zu versorgen.
Den ganzen Tag über spielt der Radiosender »Crap« aus Belgien: ein Dozent aus Antwerpen mit Studierenden, eigens an Bord, um uns mit der Übertragung von Livesendungen zu versorgen. Es gibt Musik zu hören, alte und moderne, Interviews laufen und Informationen über Auschwitz werden vorgetragen. Man lernt sich kennen, wird sich der vielen Sprachen bewusst, die um einen herum surren und die Zeit vergeht wie im Flug.
Nur die Route, die der Zug nehmen muss, bereitet uns Kopfzerbrechen – der direkte Weg von Darmstadt nach Krakau hätte anders ausgesehen, wir werden durch die winzigsten Dörfer geleitet und fragen uns warum.
Am Abend gegen 20 Uhr kommen wir in Krakau an. Wir werden auf Busse verteilt und fahren zu dem Hotel, in dem wir untergebracht sind. Nach dem Essen fallen wir müde in unsere Betten – am nächsten Tag wird es schon sehr früh weitergehen im Programm.
Die Stadt der Toten – das ist das erste, was mir in den Kopf schießt, als ich die Steinhäuser vom Stammlager Auschwitz sehe. Nach dem Frühstück waren wir schon um halb acht losgefahren, um uns dem ersten Ziel der Reise zu widmen.
Unsere Gruppe steigt aus dem Bus, wir geben unsere Taschen ab und stellen uns an die lange Schlange an. Sehr irritierend ist diese Art hier so zu warten. Große Gruppen drängeln sich durch die Sicherheitsvorkehrungen, die Situation erinnert an ein Konzert oder den Besuch eines gewöhnlichen Museums.
Durch die Kontrollen hindurch geschleust, werden wir von einer Mitarbeiterin der Gedenkstätte gebeten, an die Seite zu treten und dort zu warten.
Mir schießen Bilder in den Kopf, Szenen, wie man sie sich vorgestellt hat, wenn sich die eigenen Verwandten aufteilen mussten, nach links und rechts – die einen zum Arbeiten, die anderen zum vergast werden. Mir ist schlecht.
Unsere Führung wird von einer polnischen Historikerin geleitet, zu der es zunächst schwierig erscheint, eine Verbindung aufzubauen. Wir sehen uns verschiedene Gebäude und Teile der Ausstellung über das Lager an, welche die Gedenkstätte seit 1955 präsentiert.
Es sind so viele Impressionen auf einmal, dass ich es kaum schaffe, etwas aufzunehmen. So viele Fragen, die sich einem aufdrängen, solch ein Schock, dass man auf eben diesem Boden steht.
Die Masse an Besuchern erleichtert es nicht unbedingt. Man hat keine Ruhe, kommt nicht richtig zu sich. Ich sehne mich nach einem Rundgang ganz für mich alleine. Hinter einer Glaswand sind Koffer aufgestapelt, sie liegen übereinander, kreuz und quer, und die meisten sind beschriftet mit Familiennamen der deportierten Juden. Rosenthal, denke ich, so heißt ein früherer Nachbar und Freund meiner Eltern. Goldstein, lese ich, und erinnere mich an Kurt und vor allem seine Enkelin Arleen, bei der ich vor wenigen Monaten auf der Couch saß.
Zweig, Gold, Adler, Cohn, – es sind so viele und man versucht, ansatzweise die Dimension zu greifen. So viele Menschen wie Du und ich, Freundinnen, der Mann am Obststand, der Dozent oder die Arbeitskollegin. Es hat so viele getroffen und bei all den Koffern sieht man wieder: es kann nicht sein, dass das niemandem aufgefallen ist.
Zu den Kinderschuhen, die ebenfalls ausgestellt sind, tausende Paare, fällt mir nichts mehr ein. Beim Anblick der Haarbüschel, die aufbewahrt wurden, und vor allem beim Realisieren der Tatsache, dass die daneben liegende Decke aus eben diesen Haaren »gefertigt« wurde, sehe ich eine Verbindung, die mir vorher nicht klar war: Die Verknüpfungen des Kapitalismus in seiner höchsten Form und der Entfremdung und Reduzierung des Menschen zu Material.
Wir stehen in der Gaskammer. Die Besucher fangen an, die ungewöhnlichsten Fragen zu stellen; wahrscheinlich, um das Grauen irgendwie verarbeiten zu können. Wie schnell man wohl gestorben ist, in dieser Kammer? Ob die Menschen lange leiden mussten? Was haben denn die Kinder gedacht? Und sind das Kratzspuren, an den Wänden? Am Ende des Rundgangs sehen wir uns die neue Shoah Ausstellung in Block 27 an. Sie wurde erst 2013 eröffnet und beeindruckt mich auf ein unfassbare Art und Weise. Sobald man den Block betritt, hört man Gesang und Melodie eines Gebetes, das gesungen wird. Das Wort SHOAH steht in großen Lettern vor den Besuchern, man kann sich dem Gefühl nicht entziehen, gleich mit Haut und Haar eintauchen zu können und zu müssen, wenn man durch diese Ausstellung gehen wird.
Der folgende Raum stellt das Leben der Juden in der Vorkriegszeit in Europa und Nordafrika dar, und zwar durch eine 360-Grad-Filmmontage, die uns Besucher umgibt. Ich schaue mir die Bilder an: so viel Freude, Feste, Tanz – man steht mitten im Leben der jüdischen Familien. Für mich fühlt es sich vor allem schön an, zu sehen, welches Glück auf den Videos und Bildern zu sehen ist.
Ein weiterer Teil der Ausstellung zeigt, in einem schneeweißen Raum, die Fragmente authentischer Zeichnungen jüdischer Kinder, die während des Holocausts gemalt wurden – sie wurden von den Künstlern der Ausstellung auf die Wand des Raumes übertragen.
Der letzte Raum der Ausstellung beherbergt ein riesengroßes Buch, in dem die Namen aller Opfer, die in Auschwitz registriert wurden, aufgelistet sind. Ich bin entsetzt zu sehen, dass auch mein Familienname beinahe eine halbe Seite des Buches ausfüllt. Zum ersten mal weiß ich es zu schätzen, nicht alleine durch das Lager zu laufen. Eine junge Lehrerin aus Kassel steht neben mir und hält meine Hand. Ich bin froh über ihre Unterstützung und dankbar, die Namen nicht allein lesen zu müssen. Die Gefühle der restlichen Gruppe sind nur schwer einzuschätzen. Die meisten sind ruhig und interessiert, eine Betroffenheit ist zu spüren.
Nach dem Besuch des Lagers gehen wir Mittag-essen. Zwischen den normalen Gesprächen über das Essen oder den Ablauf kommen immer wieder Fragen auf, die den Ort betreffen, den wir gerade gesehen haben. Viele finden es befremdlich bis unheimlich, dass Oswiecim eine »ganz normale« Stadt zu sein scheint, mit Häuschen und Gärten, Spielplätzen und Familien neben dem KZ-Zaun. Wir versuchen uns vorzustellen, wie es sein muss, hier zu leben und aufzuwachsen.
Am Nachmittag besichtigen wir Krakau. Olga, die Betreuerin meiner Gruppe auf der Reise, führt uns erst durch die Stadt bevor wir uns frei bewegen. Das Wetter meint es gut mit uns und der Spaziergang durch die schöne Umgebung ist ebenfalls ein sehr angenehmes Kontrastprogramm zum Vormittag. Uns fällt auf, dass man hier richtige Touren buchen kann, um Auschwitz zu besichtigen. In Paris der Eiffelturm, in Barcelona Sagrada Familia, in Krakau eben Auschwitz. Absurd kommt es uns vor.
Am Abend sehen wir uns die Kinderoper Brundibár an – wunderbar aufgeführt und musikalisch begleitet von einer Schauspielgruppe aus Belgien sowie einem dazugehörigen kleinen Orchester.
Aufgrund der Größe wurden wir aufgeteilt in jeweils ca. 500 Personen – das jeweilige Abendprogramm konnten wir dann je um einen Tag zeitversetzt genießen.
Unsere Gruppe ist hellauf begeistert von der Oper – trotz Sprachschwierigkeiten, denn aufgeführt wird das Stück auf Französisch. Am zweiten Tag, dem 8. Mai, besuchen wir den Komplex Birkenau.
Ich glaube, hier bekommt man eine Vorstellung der Bedeutung des Wortes »Unendlichkeit« – so jedenfalls fühlt es sich für mich an, als ich auf dem Gelände stehe. Eine entsetzliche, unvorstellbare Weite, in der Baracken aufgereiht sind, soweit das Auge reicht.
Den ganzen Vormittag und Mittag verbringen wir auf dem Gelände, lauschen unserer Gruppenbetreuerin und sehen uns die Überreste, zum Teil nachgebaut, zum Teil noch Erhaltenes, vom Lager an.
An der Rampe verbringen wir viel Zeit. Die Fotos von den Menschen, die hier »sortiert« worden waren, hatten wir am Tag zuvor gesehen. Auch zu den Überresten der Gaskammern werden wir geführt und sind hin- und hergerissen, als wir eine Fuchsmutter mit ihren Jungen in den Ruinen sehen – ist es gut, dass die Natur hier wieder die Überhand gewinnt?
Oder wächst so vielleicht auch »Gras über die Sache«, über die niemals Gras wachsen soll? Am Teich des Lagers halten wir für einige Minuten inne und gedenken der Opfer, deren Asche am Grund liegt.
Wir laufen zur Effektenkammer, in der die Häftlinge desinfiziert wurden. Im Gebäude gehen wir den Weg nach, den so viele Häftlinge haben gehen müssen.
Am Mittag gibt es eine Gedenkveranstaltung, zu der das Institut des Vétérans geladen hat – es sprechen Martin Schulz als Präsident des Europäischen Parlaments, Michel Jaupart, der General-Administrator des »Institut des Vétérans«, Henri Goldberg als Vertreter der Auschwitz Stiftung, Dr. Ulrich Schneider, Generalsekretär der FIR und zum Abschluss der Auschwitz – Überlebende Paul Sobol aus Belgien.
Die Kundgebung verläuft ruhig und andächtig und im Anschluss legen wir Blumen auf Gedenkplatten des Mahnmals, vor dem die Zeremonie stattfindet.
Was man spürt ist eine Freude, eine Freude darüber, dass 70 Jahre danach erinnert wird und auch junge Menschen dazu bereit sind, sich zu erinnern.
Paul Sobol fordert uns auf, uns nicht in erster Linie als Deutsche, Niederländer oder Ungarn zu fühlen, sondern als Europäer – Martin Schulz geht auf die Flüchtlingsdramatik im Mittelmeer ein und weist darauf hin, dass wer den Opfern von Au-schwitz gedenke, die Misere der Flüchtlinge in der Gegenwart nicht ignorieren dürfe.
Dieser Blick in die Zukunft macht Mut und erleichtert es uns, Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden. Insbesondere Überlebende stärken zu können, in dem man ein Stück der Verantwortung auf sich nimmt, ist ein tolles Gefühl.
Eine kleine Gruppe von Jugendlichen aller anwesenden Nationalitäten hat im Anschluss die Möglichkeit, mit Martin Schulz Mittag zu essen.
Anders als vielleicht erwartet, ist er offensichtlich sehr am Gespräch mit uns und unserer Meinung interessiert. Wir diskutierten über Fragen wie was man tun könne, damit »so etwas« nicht mehr passiere oder wie man die Erinnerung an den Holocaust zukünftig gestalten könnte. Es entsteht ein interessanter Gedankenaustausch; aufgrund der Größe der Gruppe ist es zwar schwierig, alle Redebeiträge zu hören, dennoch sind die Beiträge vieler Teilnehmer sehr bereichernd.
Der Bus holt uns nach dem Essen ab und bringt uns in die Messehalle von Krakau – hier erwartet uns ein absolutes Highlight der Reise, nämlich ein Konzert der Klezmergruppe »Kroke«. Schlagartig wird mir die Dimension des Aufwandes bewusst, den die Organisatoren betrieben haben mussten – Kroke ist eine international bekannte Gruppe von Musikern, die Klezmer, Jazz, Musik der Roma und moderne, elektronische Elemente verbindet.
Wir werden Teil eines packenden und hoch emotionalen Konzertes, das ich nie vergessen werde.
Nach diesem Erlebnis ging es nun wieder ins Hotel zum Abendessen. Bereits im Bus wurde angekündigt, dass es noch eine Abschiedsdisko geben würde. Im ersten Moment finde ich die Vorstellung ziemlich befremdlich, nach solchen Tagen, solchen Orten, einfach am Abend zu feiern, zu tanzen und Spaß zu haben. Natürlich kann jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin selbst entscheiden, ob er oder sie mit fahren möchte, und tatsächlich – die meisten, so mein Eindruck, kommen mit zum Fest.
Spätestens mit dem Eintreffen in die Halle sind meine Zweifel verflogen – Es ist toll zu sehen, wie gelöst die Jugendlichen tanzen können, viele Lehrkräfte zum Teil mit ihnen. Wir unterhalten uns natürlich auch über den Tag und über die Reise, doch die Meinung ist am Ende sehr ähnlich: Wir wollen feiern, dass es uns so gut geht, und trotzdem nie vergessen, was geschehen ist. So geht die Reise schön zu Ende und wir feiern den 8. Mai, 70 Jahre nach der Befreiung, tanzend und erleichtert gemeinsam.
Am nächsten Tag steigen wir schon früh wieder in die Busse, um den Zug der 1000 zu erreichen, der uns wieder nach Hause bringen soll. Wir reden viel, kennen einander nun besser und tauschen uns aus, ob der unterschiedlichen Eindrücke die wir gewonnen haben. Manche wollen den Kontakt halten und schreiben E-Mail-Adressen und Handynummern auf, andere planen den nächsten Urlaub in Herkunftsländern der Mitreisenden. Einen Tag und eine Nacht verbringen wir noch im Zug. Nach und nach steigen Mitfahrende aus. Um 06:00 Uhr früh kommen wir in Darmstadt an. Von hier aus fährt der Zug noch weiter nach Belgien, wo er auch gestartet war. Die Leute verstreuen sich, warten auf unterschiedliche S-Bahnen und Regionalzüge, die sie Nachhause bringen sollen.
In meinen Augen war es eine wunderbare Fahrt – toll organisiert, so gestaltet, dass sicherlich jeder irgendwann und irgendwie erreicht wurde und sehr lehrreich. Bald ziehe ich um, ins Frankfurter Nordend. Gegenüber von meiner Wohnung wird dann das Haus stehen, in dem ein Bruder meines Urgroßvaters mit seiner Frau lebte – Josef und Rebekka Carlebach, 1942 deportiert und in Auschwitz ermordet. Ein schönes Gefühl, zu wissen, als Teil dieser Familie jetzt wieder dort leben zu können.