Unermüdlicher Rechercheur
7. September 2016
Zum 75. Geburtstag des Zwangsarbeits-Forschers Dieter Saal
55 Jahre mussten vergehen, bevor die Zwangsarbeit – nach Schätzungen geleistet von etwa 15 Millionen Menschen – als nationalsozialistisches Unrecht offiziell in einem Gesetz anerkannt wurde. Und einer hat einen rekordverdächtigen Anteil daran, das Gesetz in seinem Umfeld umzusetzen. Das war der unermüdliche Stadtarchivar und Heimatforscher Dieter Saal in Lüdenscheid, der weit über 90 Prozent der Zwangsarbeiter im Landkreis mit den Namen ihrer Ausbeuter ermitteln konnte und 16 Prozent der Sklavenhalterfirmen seines Landkreises Märkischer Kreis dazu brachte, in die Stiftung einzuzahlen. Der Bundesdurchschnitt lag bei drei Prozent.
Auch im Märkischen Kreis um Lüdenscheid wollten sich Politik und Wirtschaft ihrer Verantwortung entziehen. Auf diesem Sektor Veränderungswillen zu schaffen, das war in Lüdenscheid vor allem Dieter Saals Werk. Um einen Forschungsauftrag des Heimatvereins zugunsten der Zwangsarbeiter durchzusetzen, scheute Dieter Saal keine Unannehmlichkeiten.
Nachdem in Lüdenscheid unsere Forschungsstelle beim Heimatverein geschaffen wurde und eine Bewegung von Antifaschisten wirkte, um die Namen von zur Zahlung verpflichteten Firmen zu veröffentlichen, musste die Stadt nachgeben und die Bundesstiftung unterstützen. Wir begannen sehr erfolgreich, die nötigen Nachweise für die Zwangsarbeiter vorzulegen, die zu beschaffen einen erheblichen Aufwand erforderte. Am Ende lagen 7462 Kurzbiografien von Zwangsarbeitern in Lüdenscheid und Umgebung vor, die in Datenbanken zusammengefasst, zudem diverse statistische Analysen erlauben. Diese Datenbanken sind nun im Stadtarchiv einsehbar. Vermutlich konnten auf der Grundlage der Lüdenscheider Recherchen etwa 1500 Überlebende eine Entschädigung erhalten.
Dankbar konnte man auch den örtlichen Medien sein. Beschrieben wurden mit Saals Hilfe Zustände und Verbrechen in einigen Arbeits- und anderen Lagern. Ermöglicht wurden bemerkenswerte Ausführungen zu den Schicksalswegen einzelner Zwangsarbeiter und zu den Lüdenscheider Bürgerinnen und Bürgern, die sich an jene Zeit erinnerten und uns bei unserer Arbeit halfen – als kleines Stück Wiedergutmachung, als nachgeholte Willkommenskultur.
Besonders dank seines Engagements widmeten wir längere Untersuchungen dem spurlosen Verschwinden von 118 montenegrinischen Zwangsarbeitern, das offensichtlich zu jenen mörderischen, von NSDAP-Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Albert Hoffmann in den letzten Kriegswochen angeordneten Verbrechen gehört. Wir brachten die Mittäter, die möglicherweise noch leben, jetzt zur Anzeige; die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt übernahmen den Fall.
Fünfzehn Jahre nach der Zeit der Erforschung der Zwangsarbeit mussten wir leider feststellen: »Keine Anklage gegen die Quandts und Co.« Die Anbringung einer Mahntafel an den Gebäuden der Quandts in NRW wurde noch immer nicht durchgesetzt.. In Lüdenscheid wären das die der Firma Busch-Jäger, die früher der Familie Quandt gehörte. Mit solchen Tafeln soll auf die verhängnisvolle Rolle von Wirtschaftskreisen im sog. »Dritten Reich« bzw. im Zweiten Weltkrieg – auch in Lüdenscheid – hingewiesen werden. Die Rolle der Quandts aufzudecken – sowohl in Lüdenscheid als auch im ganzen Land -, das bleibt unsere Aufgabe. Während sich die VVN-BdA solcher Anklagen gegen Vertreter der ökonomischen Eliten widmet, sieht Dieter Saal seine Aufgabe mehr darin, humanitäre Motive geltend zu machen.
Im Jahr 2015 war ganz in diesem Sinne zu erleben, dass die juristische Klausel »Kriegsgefangenschaft begründet keine Leistungsberechtigung« teilweise unwirksam gemacht wurde, um die wenigen noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen wenigstens minimal entschädigen zu können – nicht jedoch die italienischen. Auch daran hat Dieter Saal mitgewirkt.
Die Schlussfolgerung, die ich aus dem beschämenden Verhalten deutscher Großunternehmer in den Auseinandersetzungen um die Entschädigung der Zwangsarbeiter ziehe, lautet: Ohne Wirtschaftsdemokratie wird es auf die Dauer keine Demokratie mehr geben, wie es auch »ohne die Einschränkung von Rüstungskonzernen und Rüstungsexporten« keinen Frieden geben kann.
In diesem Sinne ist in Lüdenscheid unter Mitwirkung von Dieter Saal eine politische Szene entstanden, die sich einer antifaschistischen und friedenspolitische Erinnerungsarbeit ebenso wie dem Wirken für die Zukunft verpflichtet fühlt. Dazu gehört auch die Erinnerung an den Lüdenscheider Kommunisten Werner Kowalski (1901-1943). Mit Dankbarkeit nahm ich das ihm gewidmete Buch »Deckname Dobler« entgegen und erfuhr, dass Dieter Saal daran beteiligt war, Leben und Kampf auch dieses Mitglieds des ZK der KPD, der von der Gestapo ermordet wurde, dem Vergessen zu entreißen.
Ulrich Sander: Der Iwan kam bis Lüdenscheid. Protokoll einer Recherche zur Zwangsarbeit, Papy Rossa, 237 Seiten, 15,90 EUR