Ruth Rewalds Erbe
13. September 2016
Dirk Krüger über seine Entdeckung des Jugendbuches »Vier spanische Jungen«
Im Jahre 1984 habe ich mit Prof. Thomas Koebner, dem Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Wuppertal, eine Dissertation zur Literatur zum Spanischen Bürgerkrieg besprochen. Wir einigten uns darauf, nicht die bekannte, umfangreiche Literatur neu zu bewerten und zu interpretieren. Mein Ziel war es, nach wenig oder gar nicht bekannten Arbeiten von solchen Exil-Autoren zu forschen, die in der Wahrnehmung nicht mit der Literatur zum Spanischen Bürgerkrieg in Verbindung gebracht wurden.
1985 bin ich beim Studium des Bandes 6, »Exil in den Niederlanden und in Spanien« des auf sieben Bänden angelegten Werks »Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945« in einer Fußnote auf Ruth Rewald gestoßen. Der war zu entnehmen, dass ihr Nachlass im Zentralen Staatsarchiv der DDR, in Potsdam, archiviert sei und dass sich darin das unveröffentlichte Typoskript zu dem Kinder- und Jugendbuch »Vier spanische Jungen« befinde.
1986 habe ich die Erlaubnis bekommen, den Nachlass in Potsdam einzusehen. Ich habe dann mehrere Wochen im Archiv gearbeitet. Viele Teile musste ich handschriftlich erfassen, weil damals die Kopiermöglichkeiten noch begrenzt waren. Vom Typoskript und anderen Original-Dokumenten wurden Filme gemacht und davon dann Kopien gezogen. Sie wurden dann Ende 1987 die Grundlage für die Veröffentlichung des Buches »Vier spanische Jungen« in einem Kölner Verlag.
Ruth Rewald war Berlinerin, 1906 geboren. Sie studierte zunächst in Berlin, später in Heidelberg, brach das Studium jedoch vor dem Abschluss ab. Anschließend verfasste sie Kurzgeschichten, die in verschiedenen Zeitungen erschienen. 1932 veröffentlichte sie ihren ersten Roman: »Müllerstraße. Jungens von heute«.
1929 hatte sie den jüdischen Rechtsanwalt Hans Schaul geheiratet. Mit ihm gemeinsam floh sie 1933 vor den Nazis nach Paris. Dort hat sie mit zahlreichen Gelegenheitsarbeiten die Familie »über Wasser gehalten«. Und sie hat zwei Kinder- und Jugendbücher geschrieben: »Janko – Der Junge aus Mexiko« und »Tsao und Jing Ling – Kinderleben in China«. Das hat damals in der Exilpresse großes Aufsehen erregt. In der AIZ wurde gar ein ganzes Kapitel aus dem »Janko« abgedruckt.
Im Herbst 1936 ist Hans Schaul nach Spanien gegangen und hat dort praktisch bis zum Ende des Krieges in den Internationalen Brigaden gekämpft. Ruth Rewald blieb zunächst in Paris, wo am 16. Mai 1937 die Tochter Anja geboren wurde.
Als ihr Mann in einem Brief von den vier spanischen Jungen berichtete, die am Nachmittag des 16. Juni 1937 aus der Bergarbeiterstadt Penarroya zum »Bataillon der 21 Nationen – Tschapaiew« übergelaufen waren, wurde unter anderem von Gustav Regler beschlossen, Ruth Rewald nach Spanien einzuladen. Verbunden war das mit der klaren Absicht, dass sie ein Kinder- und Jugendbuch dazu verfasst.
Sie hat, nachdem sie eine Betreuung für ihr Kind gefunden hatte, dann um die Jahreswende 1937/38 drei Monate in dem Kinderheim »Ernst Thälmann«, das die 11. Internationale Brigade in einem verlassenen Schloss in der Nähe von Madrid eingerichtet hatte, zusammen mit den spanischen Kindern gewohnt und gelebt.
Nach ihrer Rückkehr hat sie das Buch »Vier spanische Jungen« geschrieben, Vorträge gehalten und zahlreiche Reportagen verfasst, die teilweise in Zeitungen in der Schweiz veröffentlicht wurden – und etwas Geld einbrachten. Für das Buch aber fand sich kein Verleger.
Im Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht Frankreich. Bereits am 14. Juni 1940 erfolgte die kampflose Einnahme von Paris. Frankreich zerfiel in zwei Teile: Es entstand eine »besetzte Zone« und ein französische Restgebiet mit dem Regierungssitz im Kurort Vichy und mit General Petain an der Spitze.
Hans Schaul, der aus Spanien zurückgekehrt war, wurde zunächst im Lager Le Vernet und dann in dem Lager Djelfa in Algerien interniert. Er wurde von dort in die Sowjetunion eingeladen. Damit konnte er sein Leben retten.
Ruth Rewald packte im Mai 1940 ihr gesamtes geschriebenes und gedrucktes Hab und Gut in einen Koffer (deutsche Frauen mit Kindern waren noch von der Internierung in Lagern ausgenommen) und floh zunächst nach Saint Nazaire. Als die Stadt von den Nazis zu einem militärischen Sperrgebiet erklärt wurde, floh sie weiter die Loire entlang und gelangte am 29. November 1940 nach Les Rosiers-sur-Loire. Sie wurde dort gut aufgenommen, bekam eine kleine Wohnung und konnte im Garten Obst und Gemüse anpflanzen und damit zur »Selbstversorgung« beitragen. Ihre Tochter konnte ohne Probleme die Schule besuchen.
Den zahlreichen Karten, die sie in dieser Zeit an ihren Mann richtete und die dieser retten konnte, konnte ich viele Informationen über ihre Lebens-umstände und etliche Kommentare und politische Einschätzungen, besonders nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, entnehmen.
Sie war, so würde man es heute ausdrücken, außerordentlich beliebt und gut integriert. Davon zeugen z.B. die Schulfeste an denen sich Anja und ihre Mutter aktiv beteiligten und die Geburtstage Anjas, zu denen immer viele Kinder kamen.
Am 22. Juni 1942 schreibt sie an ihren Mann: »Ansonsten trage ich jetzt das Emblem meiner ‚Rasse‘». Und sie fährt fort: »Das hat mir viel Sympathie eingebracht und zwei Paar Schuhe in keinem schlechten Zustand. Du weißt aber, dass ich mich darüber nicht amüsiere.«
Ihre letzte Karte trägt das Datum 17. Juli 1942 und das Poststempeldatum 18. Juli 1942. Sie schreibt: »Mein lieber Hans! Es ist soweit. Ich fahre zur Erntearbeit, ich weiß noch nicht wo…Ich glaube nicht, daß du so bald Nachricht bekommst…Außer der Trennung von Anja wird mir nichts etwas ausmachen…Dir alles Gute! Ruth«
Les Rosiers lag in der »Zone d’occupation allemande« in der besetzten Zone. Ruth Rewald wurde am 17. Juli 1942 im Rahmen der Großrazzia »Rafle du Vel‘ d’Hiv«, die Teil der »Operation vent printanier« und Teil der »Operation écume de mer« zur »ehebaldigsten restlosen Freimachung Frankreichs von Juden« von der Gestapo mit Unterstützung der französischen Polizei verhaftet und ins Gefängnis von Angers gebracht.
Am 18. und 19. Juli wurden von den Behörden die Deportationslisten erstellt. Darauf waren die Namen von 430 Frauen registriert. Ruth Rewald bekam die Nummer 68.
Am 20. Juli wurden die Gefangenen dann in Viehwaggons gesperrt und bekamen »Verpflegung für 14 Tage«. Um 21.35 Uhr, verließ der Zug den Bahnhof von Angers St. Laud. Sein Ziel: Das KZ Auschwitz. Ruth Rewald wurde nur 36 Jahre alt.
Ihre Tochter wurde zunächst von der Nachbarin und später von der Lehrerin aufgenommen. Der Koffer mit all ihren Unterlagen wurde beschlagnahmt und in das Gestapo-Hauptquartier nach Berlin gebracht. Dort wurde er nach der Befreiung Berlins von den Soldaten der Roten Armee gefunden und nach Moskau gebracht.
1957 wurde er dann in einem »Staatsakt« der DDR übergeben, die ihn im Zentralen Staatsarchiv in Potsdam archivierte. Er schlummerte danach unentdeckt und unbeachtet vor sich hin, selbst ihr Mann wusste davon nichts, und wurde erst 1979 durch die Wissenschaftlerin Silvia Schlenstedt entdeckt. Und so kam es 1981 zu dem Hinweis in dem schon erwähnten Buch.
Die Nazis wollten die Erinnerung an sie für immer auslöschen. Mit ihrem Hang zur Bürokratie durchkreuzten sie selbst ihre Absicht
Ich erfuhr, dass ihr Ehemann, Hans Schaul, noch in der DDR lebte und bekam die Gelegenheit mit ihm und seiner zweiten Ehefrau, Dora, lange Gespräche zu führen. Hans hat mir dabei viele Informationen über seine Rettung, über ihre gemeinsame Zeit in Paris gegeben, über seine Zeit in Spanien, Einzelheiten zu den »Vier spanischen Jungen«, die er fotografiert hatte, über die weltanschaulichen Positionen seiner Frau. Und er hat mir alle 42 Karten gegeben, die er in der Zeit vom April 1941 bis Juli 1942 von Ruth bekommen hat – darunter auch die letzte vom 17. Juli 1942. Es ist das letzte Lebenszeichen von Ruth Rewald.
Im Sommer 1988 war ich dann in Les Rosiers. Im Rathaus zeigte man mir das noch erhaltene große Buch mit den Registrierungen, welche Ausländer, wann in Les Rosiers angekommen sind. Darin fand ich den genauen Ankunftstag von Ruth Rewald und ihrer Tochter Anja – es war der 29. November 1940.
Ich besuchte auch die Tochter des damaligen Bürgermeisters, Josette Geffard, die als 14jährige die Zeit erlebt hatte und viele Einzelheiten berichten konnte. Auch übergab sie mir etliche Fotos von Anja, mit der sie befreundet war. Von ihr habe ich viel über das Leben in der Zeit der Besetzung erfahren. Sie hat mir das Haus gezeigt in dem Ruth und ihre Tochter gewohnt haben und die Schule in die Anja gegangen ist. Ganz wichtig war, dass sie mir die Adresse der Lehrerin von Anja geben konnte. Dadurch konnte ich ihr einen Brief mit vielen Fragen und Bitten schreiben. Die Lehrerin informierte mich darüber, dass Ruth Rewald aktiv von den Résistance-Kämpfern der Region unterstützt wurde und sie der kleinen Anja sogar ein selbst hergestelltes Dreirad geschenkt haben. Auch den Karten an Hans Schaul konnte ich einen verschlüsselten Hinweis darauf zu entnehmen.
Sie hat ganz detailliert und mit großem Schmerz und Trauer über ihre Bemühungen berichtet, das Kind zu retten, es zu adoptieren. Aber die Nazi-Barbaren hätten das weinende Kind »am Morgen des 25. Januar 1944« brutal aus der Klasse geholt. Es wurde nach Drancy und von dort, wie ihre Mutter, nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sie hat die ersten kleinen Briefe und Zeichnungen von Anja an ihren Vater und an den Weihnachtsmann hinzugefügt.
Ich beschloss, die Anlage und das Thema meiner Dissertation zu ändern. Sie erhielt nun den Titel »Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald und die Kinder- und Jugendliteratur im Exil 1933-1945«. Die Arbeit habe ich mit der Veröffentlichung des Buches »Vier spanische Jungen« 1987 und der Publizierung der Dissertation im dipa-Verlag 1990 abgeschlossen.
Der an der Universität in New York lehrende Germanist, Robert Cohen, hat in seinem großartigen Roman »Exil der frechen Frauen« drei Frauen porträtiert. Eine von ihnen ist, neben Maria Osten und Olga Benario, Ruth Rewald. Diese drei »frechen Frauen« führt er hinreißend mittels zahlreicher fiktiver Begegnungen durch die turbulenten 20er, 30er und 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts.