Charisma der Kollaboration
11. Januar 2017
Ein niederländischer Film beschäftigt sich mit der Zeit der Nazi-Okkupation
Andries Riphagen, einem Amsterdamer Kriminellen, der sich während der deutschen Besatzung (1940 – 1945) an dem Eigentum deportierter Jüdinnen und Juden bereicherte, ist nach einem Buch (2010), einer Fernseh-Serie (2013) nun auch ein Film gewidmet worden. Dabei bewegt man sich nahe am historischen Vorbild: Riphagen, 1909 in Amsterdam geboren, wurde Ende der 20er Jahre zur Führungsfigur der Amsterdamer Unterwelt. Er trat früh in die Nationaal-Socialistische Nederlandsche Arbeiderspartij (NSNAP) ein.
Während der deutschen Besatzung war er Vertrauensmann des SD und bei der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« beschäftigt. Über seine Kontakte ins Rotlichtmilieu spürte er untergetauchte Juden auf und war damit ein wichtiges Mitglied der »Kolonne Henneicke«, die als »Hausratserfassungsstelle« Besitztümer von Jüdinnen und Juden beschlagnahmte und der deutschen Besatzungsmacht übergab (jedenfalls sollten sie das). Nach dem Krieg verhalf ihm der neu gegründete niederländische Geheimdienst im Austausch für Informationen zur Flucht nach Argentinien. Riphagen wurde erfolglos angeklagt und starb 1973 ohne bestraft worden zu sein. Der Film beleuchtet seine Zeit bei der Kolonne Henneicke bis zu seiner Flucht. Eindrücklich wird geschildert, wie er sich als Judenretter ausgibt um die sich anvertrauenden Menschen und all ihre Bekannten zu bestehlen und deportieren zu lassen. Hängen bleibt, dass ein naiv-chaotisch organisierter Widerstand letztlich Schuld an seiner Straffreiheit ist.
Schlechtes Beispiel
Laut dem Produzenten und Regisseur, Pieter Kuijpers, wolle man an dem Beispiel Riphagens zeigen, dass die Niederlande auch ein Land von Opportunisten und Antisemiten waren. Abgesehen davon, dass diese Erkenntnis nicht gerade neu ist, gelingt es mit dem Gangster-Porträt »Riphagen« nicht, solch ein Geschichtsbild zu vermitteln. Warum beispielsweise 60.000 Niederländer, trotz der Demütigungen durch die Besatzungsmacht, freiwillig in der Waffen-SS kämpften, erfahren wir nicht. Einblicke in den antisemitischen Polizeiapparat werden gegeben, aber ohne Kontextualisierung. Das meiste bleibt im Dunkeln oder verlangt dem Publikum viel historisches Wissen ab. Dass »Riphagen« kein Aufklärungsfilm ist, mag ihm verziehen werden, aber dass die Nazi-Kollaborateure filmästhetisch besser weg kommen als der Widerstand ist schwer zu akzeptieren. Denn mit dem charismatischen Riphagen wird nahe-zu ein Anti-Held zu Anne Frank aufgebaut. Gezeigt wird nämlich ein Mann, der zwar brutal und rücksichtslos gegen seine Gegner vorgeht, sich aber schützend vor die Seinen stellt und durch psychologische Tricks aus jeder Situation als Sieger hervorgeht. Ein Unterwelt-Boss, der sich ohne moralische Bedenken und nur im Sinne seiner Geschäfte in den Dienst der neuen Macht stellt, ist zumindest kulturgeschichtlich schon lange rehabilitiert. Solche Ganoven sind positive Identifikationsfiguren – ihr Leben ist spannend und sie sind erfolgreich. Allein die körperliche Erscheinung des Riphagen-Darstellers, der alle anderen in seiner Präsenz überragt, sorgt für einen fatalen positiven Gesamteindruck. Vor allem weil er nie an seinem Tun zweifelt, nie Schwäche zeigt, nie so menschelnd daherkommt wie beispielsweise die ständig mit sich hadernden Widerstandskämpfer- und kämpferinnen. Halten wir fest: Während Anne Frank durch ihr Schicksal des jahrelangen Untertauchens, des Verrats, der Deportation und Ermordung Berühmtheit erlangte, bezieht Andries Riphagen seine Popularität aus seiner Eloquenz, Gewalttätigkeit und endlosem Glück. Über Anne wissen wir durch ihr Tagebuch fast alles. Über den Amsterdamer Judenjäger Andries Riphagen und seine Motivation werden uns nur Klischees angeboten. Beim uninformierten Publikum bleibt folgendes hängen: »Die Atmosphäre ist von der Musik bis zur Optik stimmig und gab mir damit leichten Zugang zur Geschichte.« (aus einem Internetforum). Die Ganoven-Story mag einen Einstieg bieten, führt aber auf die falsche Fährte. Nils Becker