Ein Schuldspruch hätte genügt
11. Januar 2017
antifa-Gespräch mit Jürgen Weber über das Vermächtnis der Opfer
antifa: Wie bist du darauf gekommen, einen Film über das Massaker deutscher SS-Truppen in dem italienischen Ort Sant´Anna di Stazzema zu drehen, ein Ereignis, das mehr als 70 Jahre zurückliegt?
Jürgen Weber: Es war notwendig diesen Film zu machen. So traurig und armselig das ist, die Massaker und Kriegsverbrechen der Wehrmacht und SS in Italien an überwiegend Frauen und Kindern sind auch über 70 Jahre danach in Deutschland kaum bekannt. Geschweige denn wurden sie hier juristisch aufgearbeitet. Zu Beginn meines Dokumentarfilms steht ja die Aussage von Herrn Gauck, der Rechtsstaat habe keine Mittel mehr zur Strafverfolgung. Diese Aussage ist natürlich Unsinn. Der Politik und der Justiz fehlt einzig der Wille, nicht die Mittel.
antifa: Du hast alte Männer und Frauen vor die Kamera geholt, die das Massaker als Kinder überlebt haben. Ihr ganzes Leben war von diesem Ereignis überschattet. Dein Film aber heißt »Das zweite Trauma«. Was ist damit gemeint?
Jürgen Weber: Die Überlebeden sind als Kinder teilweise buchstäblich den Leichenbergen der Erschießungen von Zivilisten entstiegen. Zum Teil sind sie im Alter von unter zehn Jahren die einzigen Überlebenden ihrer Großfamilie. Jeder und jede geht anders mit diesem schweren Trauma um. Ab 2002 fanden in Italien Ermittlungen und ein Prozess statt bei denen diese Kinderopfer ihr persönlichen Schweigen durchbrachen und Zeugenaussagen machten. In Italien wurden die Mörder ihrer Angehörigen nur in Abwesenheit verurteilt.
Das zweite Trauma ist die Nichtanerkennung der Schuld der noch lebenden Täter in Deutschland. Das war ein echter Schock für die Überlebenden. Das zweite Trauma ist also mehr als ein griffiger Filmtitel. Es ist real. So real, dass der Überlebende Enio Mancini im Film sagt es bereite ihm manchmal physische Schmerzen. Diese Anerkennung der Schuld hätte genügt. Erstaunlich genug, dass alle Überlebenden im Film die alten Männer nicht mehr hinter Gittern sehen wollen. Der Schuldspruch hätte genügt.
antifa: In deinem Film kommen neben den Betroffenen auch Historiker, Journalisten, ein italienischer Militärstaatsanwalt und nicht zuletzt die Rechtsanwältin Gabriele Heinicke zu Wort, die alle darum gerungen haben, den Opfern von S. Anna, wenn auch spät, Gerechtigkeit zu verschaffen. Mit der Eistellung des letzten Verfahrens vor einem deutschen Gericht ist dieses Ansinnen gescheitert. Ist das nicht eine herbe Enttäuschung?
Jürgen Weber: Die Kumpanei in der deutschen Justiz mit den in Italien durch alle Instanzen verurteilten Mördern ist unerträglich. Wir sind es den Opfern schuldig es so deutlich zu sagen. Im Fall S. Anna kam es in Deutschland nicht einmal zur Anklage vor einem ordentlichen Gericht. Das haben Staatsanwälte verhindert. Das schadet dem Ansehen eines Rechtsstaats. Das ist die Realität.Eigentlich dürfte das eine Gesellschaft nicht hinnehmen. Ich komme ja aus dem grün-schwarzen Baden-Württemberg, da scheinen sich politische Schizophrenien gerade zu etablieren. Auf der einen Seite glaubt man fest daran, eine humane Flüchtlingspolitik zu vertreten, auf der anderen ist man Vorreiter einer erbarmungslosen Abschiebepolitik. Ein ähnliches Phänomen haben wir in den letzten zwei Jahren im Kino erlebt. Zwei große Doku-Dramen, zuletzt »Der Staat gegen Fritz Bauer«, machen den Staatsanwalt zum Leinwand-Helden deutscher Nachkriegsgeschichte. Ein Gegenmodell zum braunen Mief in den Behörden und Ministerien. Viele gehen aus den Kinos und sind auf der Seite Fritz Bauers. Kaum jemand nimmt zur Kenntnis, dass genau dieser Mief bis heute wirkt. Fritz Bauer war ein Einzelfall. Bis heute. Er und alle mit ihm haben verloren oder besser ausgedrückt, die Gerechtigkeit hat nicht gewonnen. Das dokumentiert mein Film am Beispiel S. Anna.
antifa: Du hast mehr als vier Jahre an dem Film gearbeitet. Was nimmst du persönlich an Erfahrungen daraus mit?
Jürgen Weber: Nicht nur die Empörung und Wut über den Schutz der Mörder und das erneute Unrecht an den Überlebenden. Ich habe tolle Menschen kennen gelernt. Freundschaften sind gewachsen. Das hört sich vielleicht seltsam an, aber wir hatten viel Freude bei der Arbeit und bei den Begegnungen. Ich habe schon in den 1990er Jahren von ehemaligen Partisanen im Piemont erfahren, dass es nicht von Bedeutung ist, ob du Deutscher oder Italiener bist. Es geht nur darum, ob du Antifaschist bist. Dann bist du auch Teil der Resistenza und einer von ihnen. Ich trage aus der gemeinsamen Zeit auch eine Botschaft vom Überlebenden und Nebenkläger Enrico Pieri in mir. Er kann selbst dem grausamen Massaker, das seine Kindheit und fast sein Leben zerstört hat etwas Positives abgewinnen. Die Gräuel des Faschismus haben uns über 70 Jahre Frieden in Europa gebracht. Gerade in diesen Tagen müssen wir diese Erinnerung wach halten und diesen Frieden verteidigen. Das ist das Vermächtnis der Toten und der Überlebenden des Massakers von Sant´Anna di Stazzema.