101 ermordete »Untermenschen«
19. Juli 2017
Von Rustam Qobil BBC World Service, Amersfoort
Sie verließen ihre Häuser in Zentralasien, um gegen die deutsche Armee zu kämpfen. Dann wurden sie, in Lumpen gekleidet, als Gefangene in ein holländisches Konzentrationslager gebracht. Wenige der heute noch Lebenden erinnern sich an die 101 zumeist Usbeken, die 1942 in einem Wald bei Amersfoort ermordet wurden – und man hätte sie wohl vollständig vergessen, gäbe es nicht einen neugierigen holländischen Journalisten.
Jedes Frühjahr treffen sich hunderte holländische Männer und Frauen, jung und alt, in einem Wald in der Nähe von Amersfoort bei Utrecht. Hier zünden sie Kerzen an, um der 101 unbekannten Sowjetsoldaten zu gedenken, die von den Nazis an eben diesem Ort erschossen worden waren – vergessen für über ein halbes Jahrhundert.
Die Geschichte wurde vor 18 Jahren aufgedeckt, als der Journalist Remco Reiding nach mehrjähriger Arbeit in Russland in die Stadt zurückkehrte und von einem Freund über einen sowjetischen Kriegsfriedhof in der Nähe erfuhr. »Ich war überrascht, da ich vorher nie davon gehört hatte,« sagt Reiding. »Ich besuchte den Ort und begann, nach Archiven und Zeugen zu suchen.«
Es zeigte sich, dass hier 865 sowjetische Soldaten begraben waren, doch alle außer 101 kamen aus anderen Teilen der Niederlande oder aus Deutschland. Die 101 jedoch, allesamt namenlos, waren in Amersfoort selbst gestorben. Sie wurden in den ersten Wochen nach der deutschen Invasion der Sowjetunion bei Smolensk gefangengenommen und zu Propagandazwecken in die von Deutschland besetzten Niederlande geschafft.
»Man hatte die asiatisch aussehenden Gefangenen aussortiert und wollte sie den Holländern vorführen, die sich den nazistischen Ideen entgegenstellten,« sagt Reiding. »Sie nannten sie Untermenschen – minderwertige Menschen – und hofften, dass sich die Holländer, nachdem sie gesehen hatten, wie die Sowjets aussahen, den Deutschen anschließen würden.«
Es waren die im Konzentrationslager in Amersfoort internierten holländischen Kommunisten, deren Überzeugung von den Sowjetmenschen die Deutschen zu ändern hofften. Sie wurden hier seit August 1941 gemeinsam mit ortsansässigen Juden gefangen gehalten und erwarteten alle eine Verlegung an andere Orte. Doch ging der Plan nicht auf.
Henk Broekhuizen, jetzt 91, ist einer der wenigen verbleibenden Zeugen. Er erinnert sich, dass er als Teenager beobachtete, wie sowjetische Kriegsgefangene in der Stadt ankamen. »Wenn ich meine Augen schließe, erinnere ich mich an ihre Gesichter,« sagt er. »Eingewickelt in Lumpen, sahen sie gar nicht wie Soldaten aus. Man konnte nur ihre Gesichter erkennen. Die Nazis ließen sie durch die Hauptstraße spießrutenlaufen, den ganzen Weg vom Bahnhof bis zum Lager. Sie waren schwach und klein, ihre Füße waren von alten Sachen bedeckt. Einige konnten kaum laufen und wurden von Freunden gestützt.«
Einige der Gefangenen schafften es, Blickkontakt zu den Zuschauern herzustellen, und bedeuteten per Handzeichen, dass sie hungrig waren. »Wir holten etwas Wasser und Brot für sie,« sagt Broekhuizen. »Doch die Nazis schlugen uns alles aus den Händen. Sie ließen uns ihnen nicht helfen.« Er sah sie nie wieder und hörte nichts darüber, was mit ihnen im Lager geschah. Doch begann Reiding, in holländischen Archiven Zeugnisse zu sammeln. Er entdeckte, dass es sich hauptsächlich um Usbeken handelte. Die Lagerleitung war sich selbst dessen nicht bewusst, bis ein russisch sprechender SS-Offizier ankam, um sie zu befragen.Die meisten von ihnen waren aus Samarkand, sagt Reiding. »Vielleicht waren einige von ihnen Kasachen, Kirgisen oder Baschkiren. Doch die Mehrheit waren Usbeken.«
Reiding erfuhr auch, dass die Zentralasiaten schlechter als alle anderen Gefangenen im Lager behandelt wurden. »Während der ersten Tage im Lager mussten sich die Usbeken unter freiem Himmel, ohne Nahrung und umgeben von Stacheldraht, aufhalten,« sagt Reiding. »Ein deutsches Filmteam bereitet sich auf den Moment vor, wenn die ‘barbarischen Untermenschen’ um Lebensmittel kämpfen. Sie wollten diese Szene für ihre Propaganda filmen. So werfen die Nazis den hungrigen Usbeken einen Laib Brot zu. Zu ihrer Überraschung nimmt einer von ihnen das Brot und teilt es mit einem Löffel ruhig in gleiche Teile. Die anderen warten geduldig. Niemand kämpft. Dann verteilen sie die gerecht geteilten Brotstücke. Die Nazis sind enttäuscht.« Doch es sollte für die Gefangenen noch schlimmer kommen.
»Die Usbeken erhielten nur die Hälfte der Verpflegung der anderen. Wenn ein anderer Gefangener ihnen half, wurde das ganze Lager mit Lebensmittelentzug bestraft,« sagt Bahodir Uzakov, ein usbekischer Historiker aus dem benachbarten Gouda, der die Geschichte des Amersfoort-Lagers ebenfalls untersucht. »Wenn sie Reste und Kartoffelschalen aßen, wurden sie von den Nazis dafür geschlagen, dass sie Schweinefutter aßen.«
Aus den Zeugenaussagen der Lagerwachen und Mitteilungen von Gefangenen, die er in den Archiven fand und die die Grundlage seines Buchs von 2015, »Kind auf dem Feld der Ehre«, bildeten, erfuhr Reiding ebenso, dass die Usbeken ununterbrochen geschlagen wurden und die schlechtesten Arbeiten ausführen mussten, wie den Transport von schwerem Baumaterial, Sand oder Holz in der Kälte.
Eine der schockierendsten Geschichten betrifft den Lagerarzt, einen Holländer namens Nikolaas Van Nieuwenhuysen. Als zwei der Usbeken starben, zwang er andere Gefangene, sie zu enthaupten und ihre Schädel zu kochen, bis sie sauber waren, erzählt Reiding. »Der Arzt stellte die Schädel von zwei Usbeken zum Studium auf seinen Schreibtisch. Wie verrückt!« Verhungert und schwach begannen die Usbeken, Ratten, Mäuse und Pflanzen zu essen. Vierundzwanzig von ihnen überlebten den harten Winter 1941 nicht und die verbleibenden 77 wurden nicht mehr gebraucht, als sie zum Arbeiten zu schwach geworden waren. So erzählten ihnen die Nazis im April 1942, dass man sie nach Südfrankreich bringen würde, wo das wärmere Klima besser für sie wäre. Tatsächlich brachte man sie in einen Wald in der Nähe des Lagers, wo sie erschossen und in einem Massengrab verscharrt wurden.
»Manche weinten, einige hielten sich an den Händen und gingen ihrem Tod entgegen. Wer versuchte zu fliehen, wurde von den Soldaten gejagt und erschossen,« sagt Reiding gemäß Aussagen von Lagerwachen und Fahrern, die Zeugen der Exekution waren. »Man stelle sich vor, 5.000 km weit weg von Zuhause, wo die Muezzins die Menschen zum Gebet rufen, wo der Wind mit dem Sand und dem Staub auf dem Marktplatz spielt und die Straßen mit den Aromen der Gewürze erfüllt sind. Du kennst ihre Sprache nicht und sie kennen Deine nicht. Und Du wirst niemals verstehen, warum Dich diese Leute wie Vieh behandeln.«
Es gibt kaum Informationen, die bei der Identifizierung dieser Gefangenen hilfreich sein könnten. Die Nazis verbrannten das Lagerarchiv, bevor sie im Mai 1945 flohen. Es gibt nur ein Foto, das Gesichter zeigt – zwei Männer, von denen keiner einen Namen hat. Von neun Portraits, die ein holländischer Gefangener mit Bleistift gezeichnet hatte, tragen nur zwei einen Namen.. »Die Namen sind falsch geschrieben, klingen jedoch usbekisch,« sagt Reiding. »Einer ist Kadiru Xatam und der andere heißt Muratov Zayer. So müsste der erste Kadirov, Hatam, sein und der zweite – Muratov, Zair.«
Ich erkenne den usbekischen Klang und die zentralasiatischen Gesichter sofort. Die zusammengewachsenen Augenbrauen, die freundlichen Augen und gemischtrassigen Gesichtszüge – sie alle werden in meinem Land als schön angesehen.
Das sind Portraits junger Männer in ihren frühen zwanziger Jahren oder noch jünger. Wahrscheinlich hatten ihre Mütter bereits begonnen, nach passenden Bräuten Ausschau zu halten, und die Väter hatten schon ein Kalb gekauft, um es für das Hochzeitsfest aufzuziehen, als der Krieg dazwischenkam.
Es scheint mir, einige meiner Verwandten könnten unter ihnen gewesen sein. Zwei meiner Großonkel und der Großvater meiner Frau sind nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Manchmal wurde mir gesagt, meine Onkel hätten deutsche Frauen geheiratet und sich entschlossen, in Europa zu bleiben – eine Geschichte, die sich meine Großmutter zum Trost ausgedacht hatte. Tatsächlich kamen circa 1,4 Millionen Usbeken aus dem Krieg nicht zurück und mindestens 100 000 gelten als vermisst.
Es gibt viele Gründe, warum die 101 usbekischen, in Amersfoort begrabenen Soldaten niemals identifiziert wurden, abgesehen von den zwei uns bekannten Namen. Einer besteht im Kalten Krieg, der dem Zweiten Weltkrieg rasch folgte und Westeuropa und die UdSSR in ideologische Gegner verwandelte. Ein anderer besteht in der Entscheidung Usbekistans, nach der Erringung der Unabhängigkeit 1991 seine sowjetische Vergangenheit zu vergessen. Die Veteranen wurden nicht länger als Helden betrachtet. Ein Denkmal für eine Familie, die 14 Kriegswaisen aufgenommen hatte, wurde von einem Platz im Zentrum von Taschkent getilgt, obwohl der neue Präsident des Landes nun verkündet, dass es wiederhergestellt werden soll. Kurz gesagt, die Suche nach vermissten Soldaten der Sowjetarmee hatte vor einigen Jahrzehnten für die usbekische Regierung keine Priorität. Doch meint Reiding, dass er in der Lage wäre, die Namen in usbekischen Archiven zu finden. »Die Dokumente jener sowjetischen Soldaten, die nicht gestorben waren oder deren Tod den sowjetischen Behörden nicht bekannt war, wurden an das örtliche KGB geschickt. Und die Angaben zu den 101 Gefangenen sind höchstwahrscheinlich in Usbekistan, » sagt Reiding. »Wenn ich Zugang zu ihnen bekomme, kann ich einige der 101 Usbeken finden.«
Der Artikel wurde uns von unserem niederländischen Kameraden Rien Dijkstra übermittelt. Übersetzung: Jochen Willerding