Der kalte Geschichtskrieg
21. September 2017
Studie über die beiden deutschen Historiographien
Unter dem Stichwort »Historikerstreit« hat die erbittert ausgetragene Kontroverse Mitte der 80er-Jahre ihren Platz in den Annalen der Historiographie gefunden. Die Frage indes: »Wie ist die Ermordung von Millionen Juden geschichtlich einzuordnen – als ein Verbrechen, wie es vergleichbar in der Geschichte auch anderswo und zu anderen Zeit stattgefunden hat, oder als einzigartiges, unvergleichliches Geschehen?« – hat sich anscheinend bis heute nicht erledigt.
Da gibt es die Ideologieplaner von rechts, die über eine »Wiederbelebung des Nationalbewusstseins« Konsens stiften wollen. Da gibt es aber auch die Historiker, die bis ins Detail den »kalten Geschichtskrieg« von damals akribisch nachvollziehen und zum Befund kommen: »Was ist an den Ergebnissen des Dialogs von Marxisten und Nichtmarxisten im besten Sinne aufhebenswert und was weist möglicherweise in die Zukunft?«
Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich der Journalist und Historiker Matthias Dohmen in seinem Werk mit dem etwas blumigen Titel »Geraubte Träume, verlorene Illusionen« über den deutschen Geschichtskrieg. Die im Leipziger Universitätsverlag veröffentlichte Studie, die den spätberufenen Journalisten Dohmen zum akademischen Historiker kürte, ist in sechs Kapitel gegliedert und holt weit aus.
Vom »Schicksalsjahr« 1923, als die vermeintlichen »Reformländer« Sachsen und Thüringen mit ihren Arbeiterregierungen aus SPD und KPD die Republik gegen die reaktionären Kräfte aus Bayern durch proletarische Hundertschaften verteidigen wollten, die im November 1923 unter Hitler zuschlagen sollten. Was die Historiker zum »Schicksalsjahr der Deutschen« meinten, beurteilt Dohmen: »Schon hier wird deutlich, wie 1923 zum Gegenstand von Legenden und Lügen, vor allem aber von ›Lehren‹ geworden ist, die bis auf den heutigen Tag von Bedeutung sind.«
Wie sich der Kalte Krieg wie eine schwere Decke über die Hoffnungen der frühen Jahre hüben wie drüben legte und die Historiker bildlich in beiden deutschen Staaten in die Schützengräben drängten und den »kalten Geschichtskrieg« ausfochten, ist Gegenstand des dritten Kapitels: »Wohl nie in der Nachkriegsgeschichte ist die historische Wissenschaft eine engere Beziehung zur großen Politik eingegangen.«
Die Befindlichkeiten der Historiker in den beiden Staaten lassen sich in der Rückschau grob zuordnen: Im Hauptstrom der Historiographie (BRD) dominierte die Totalitarismustheorie, »während das Klima in der DDR gegenüber nichtmarxistischen Historikern immer unduldsamer wurde.« Mit einem »Kunstgriff« bemüht sich Matthias Dohmen im fünften Kapitel den deutsch-deutschen Historikerstreit darzustellen: Er beleuchtet das Thema aus der Sicht eines finnischen Fachmanns, sozusagen aus der Position eines »neutralen Schiedsrichters« heraus.
Dieser Versuch ist weniger überzeugend als die informative Darstellung der Historikertagung vom März 1987, der die Fachwissenschaftler aus beiden deutschen Staaten auf Initiative der SPD zusammenbrachte. Zum ersten Mal diskutierten angesehene Historiker gemeinsam das Erbe der deutschen Geschichte und bekannten sich im Ergebnis zu einer »Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen«. In einer vielbeachteten Rede unterstrich SPD-Vorsitzender Willy Brandt: »Ganz und gar gegen Vernunft und Moral wäre es, die historische Verantwortung für den Mord an Millionen Menschen jüdischer Herkunft herabzustufen oder verwischen zu lassen. Die spezifische Einmaligkeit der nazistischen Verbrechen lässt sich, durch welche Vergleiche auch immer, nicht aus der Welt reden.«
Als erfahrener Journalist versäumt es Matthias Dohmen nicht, darzustellen, was nach der Wende unter Historikern so veröffentlicht wurde. In Siegerlaune gab sich etwa Hans-Ulrich Wehler und schrieb, dass, »unter den Trümmern der verblichenen DDR auch der Großteil ihrer Historiographie endgültig begraben« sei. In ähnlicher Manier urteilte der Literatur- und Kunsthistoriker Werner Fuld, wenn er über die Werke von Heiner Müller, Christa Wolf, Franz Fühmann oder Sarah Kirsch in unnachahmlicher Arroganz befand: »Die Zensur, durch die diese Texte gegangen sind, bringt eine ganz bestimmte Art von Literatur hervor…sie ist eindimensional und sie kann ganz bestimmte Probleme nicht behandeln.« Diesen Ausfall kommentierte allerdings damals die Süddeutsche Zeitung mit der trockenen Bemerkung, im Kapitel über die Zensur in der DDR »verliere der Autor Fuld völlig die Contenance«.
Wer über die Institutionen, Organisationen und die über 300 Ost- und West-Historiker in beiden deutschen Staaten mehr erfahren will, wird in dieser umfangreichen Studie von Matthias Dohmen jedenfalls vielfach fündig.
Matthias Dohmen »Geraubte Träume, verlorene Illusionen« , Leipziger Universitätsverlag 2017, 471 Seiten, 29 Euro