Von Lateinamerika lernen?
15. Oktober 2017
Flucht und Migration sind Menschheitsprobleme
»Wir leben im Zeitalter der Migration, die in ihrer jetzigen Form eine Folge der neoliberalen Globalisierung ist. Die von ökonomischer und sozialer Ausgrenzung Betroffenen und in zunehmendem Maße durch kriegerische oder kriminelle Gewalt Geschädigten aus dem globalen Süden strömen in Weltregionen, in denen sie glauben, ein sicheres Dasein führen zu können.« Mit diesem Satz eröffnet die Lateinamerikaexpertin Raina Zimmering ihre Untersuchung über Migrationsbewegungen in Lateinamerika, deren Ausmaß und Dauer größer und problematischer sind als jene, vor denen Europa gegenwärtig steht. Nur, dass man hier darüber wenig weiß. Im Jahr 2017 sind 30% der Einwohner Lateinamerikas innerhalb des Kontinents und in die USA unterwegs. Diese Zahl liegt nur 2% unter der der ärmsten Staaten Afrikas.
Als Beleg dafür, dass die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Migrations- und Fluchtbewegungen in Lateinamerika hier noch kaum verstanden werden, kann Mexiko gelten. Seit Präsident Trumps Plan, die Mauer zwischen den USA und Mexiko auszubauen und die Kosten dafür den Mexikanern aufzuerlegen, scheinen die Rollen von Gut und Böse in diesem Szenario verteilt. Tatsächlich ist aber auch die mexikanische Politik in Migrationsfragen äußerst ambivalent. Auf der einen Seite fühlt sich Mexiko dem Schutz der eigenen Migrantinnen in den USA verpflichtet, schon weil die sog. »Remesas« (Überweisungen von in den USA lebenden Mexikanern an ihre Familien) eine bedeutende Einnahmequelle darstellen. Ohne sie müsste Mexiko Sozialprogramme auflegen, um das Überleben vieler Menschen ohne andere Einkünfte zu sichern. Auf der anderen Seite schottet Mexiko vor allem seine südliche Grenze ähnlich ab wie die USA die ihre gegen Mexiko. Als Vorposten der USA vor allem gegen Einwanderer ohne Papiere aus Mittelamerika übernimmt Mexiko für sie die »Drecksarbeit«. Dabei arbeiten Schlepperringe, Drogenkartelle und mexikanische Behörden oft Hand in Hand. Sie machen die Durchquerung Mexikos für lateinamerikanische Migranten zu einer lebensbedrohlichen Tortur.
Nach der Lektüre des schmalen aber inhaltsreichen Bändchens von Raina Zimmering wird klar, dass man von Lateinamerika immerhin lernen kann, welche politischen Mittel zur Zurückdrängung von Flucht- und Migrationsbewegungen ungeeignet sind. Zu nennen wäre da vor allem die militante Sicherung von Grenzen, um Migranten, die als Bedrohung für die innere Sicherheit angesehen werden, »draußen« zu halten. Darauf scheint sich aktuell die Trump-Regierung, wie schon andere vor ihr, konzentrieren zu wollen. Doch jahrzehntelange Erfahrungen mit Flucht- und Migration auf dem amerikanischen Kontinent zeigen, dass im Ergebnis solcher Maßnahmen zwar die Kosten für das Schleppen und damit auch die Profite für die Schlepper ansteigen, die Flucht noch gefahrvoller, oft tatsächlich lebensgefährlich wird, doch auf Dauer die Zahl der Flüchtenden dadurch nicht sinkt. Wer nichts mehr zu verlieren hat als das Leben, wählt am Ende immer die Hoffnung, wie gering sie auch scheinen mag. Die Wagenburgmentalität derjenigen, die auf diese Mittel setzen, führt allerdings zu einem Anstieg von Angst, Gewalt und Hass im Inneren der »Burg«, was in den USA gut zu beobachten ist.
Selbst die oft als Alternative angesehene »Bekämpfung von Fluchtursachen« muss genau hinterfragt werden. So wurde 2015 zwischen den USA, Guatemala, Honduras und El Salvador eine »Allianz zur Steigerung des Wohlstandes für das Norddreieck« (APTN) geschlossen. Sie verfolgt das Ziel, die Flüchtlingszahlen in Richtung USA aus diesen Ländern einzudämmen. Eine vergleichbare Initiative hatte es schon einmal in den 1960er-Jahren unter Präsident Kennedy gegeben. Damals scheitert die »Allianz für den Fortschritt«. Da die APTN eine Strategie verfolgt, die mehr den Interessen der USA als der tatsächlichen Steigerung des Wohlstandes in den betroffenen Ländern dient, dürfte sich auch ihr Erfolg in Grenzen halten, denn die Probleme in den Herkunftsländern durch Militarisierung und Investitionsförderung durch US-Konzerne lösen zu wollen, heißt letztlich, auf die gleichen Mechanismen zu setzen, die die Fluchtursachen erst generiert haben.
So ist der Autorin in ihrer Schlussfolgerung zuzustimmen, »dass es tiefgreifende Änderungen in der Ausrichtung und der Weltgesellschaft selbst mit veränderten Umverteilungs- und Akkumulationsmustern geben muss. Wenn dies nicht geschieht, dann nehmen die negativen Folgen der Migration, Chaos, Gewalt und Rückschritt mit dem Potenzial von großen Kriegen, die die ganze Welt betreffen können, ihren Lauf.«
Es ist ein Verdienst des Buches, diese Gefahr, die auf dem amerikanischen Kontinent bereits deutlich sichtbar ist, jenen vor Augen zu führen, die meinen, die europäische Politik bekäme das Problem der Migration aus Armutsregionen und Krisengebieten schon auf die übliche Weise in den Griff.