Penible Gründlichkeit
7. November 2017
»Arisierung« und Massenmord am Beispiel einer Stadt
»,Die Firma ist entjudet‘ – Schandzeit in Regensburg 1933–1945« heißt ein neues Buch von Waltraud Bierwirth, Mitglied der VVN-BdA Regensburg, über ein »vergessenes« Kapitel der Stadtgeschichte: die »Arisierung« jüdischen Eigentums während der NS-Zeit.
»Unmittelbar nach dem Krieg listete das Finanzamt Aschaffenburg penibel auf, wieviel der Fiskus den Juden der Stadt geraubt hatte. … Etliche Städte verfuhren ähnlich. In Regensburg erfolgte keine Aufstellung zur Höhe des geraubten jüdischen Vermögens«, heißt es im Vorwort. Bierwirth kann das Versäumte nicht nachholen. Aber sie gibt anhand zahlreicher Einzelfälle eine Vorstellung von der peniblen Gründlichkeit des Raubs. Und von den Folgen: »Der wachsende Kreis der ‚arischen‘ Nutznießer und Profiteure hatte großes Interesse daran, nie mehr von jüdischen Eigentümern in Regress genommen zu werden. Das machte sie zu Komplizen des NS-Systems, korrumpierte sie moralisch und ließ sie wegschauen bei den Juden-Deportationen.«
Die Studie beginnt mit einem Abriss der Entwicklung der Jüdischen Gemeinde Regensburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Namen und Adressen, verwandtschaftliche Beziehungen, Funktionen in kommunalen Einrichtungen, gesellschaftliches Engagement werden genannt. Auch der schon vor 1933 zunehmende Antisemitismus. Der erste Hauptabschnitt (»Jüdisches Leben unter dem Hakenkreuz bis 1938«) reicht von der Amtseinsetzung des überzeugten Nationalisten und Rassisten Otto Schottenheim als Oberbürgermeister und dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 bis zum Ausschluss jüdischer Viehhändler vom städtischen Schlachthof im November 1936.
Der zweite Teil ist den Ereignissen der Pogromnacht (9./10. November 1938) und des folgenden Tages gewidmet. An diesem Tag wurden 70 bis 80 jüdische Männer in das KZ Dachau deportiert, nachdem ein Großteil von ihnen bei dem später so genannten »Regensburger Schandmarsch« durch die Stadt getrieben und sadistisch gequält und gedemütigt worden war.
Im dritten Hauptabschnitt (»Regensburg arisiert«) geht Bierwirth dem Raub jüdischen Vermögens sowohl durch den Fiskus als auch durch gierige »Schnäppchenjäger« nach. Fall um Fall erstattet sie Bericht: über die »Sühnezahlung« von 100 Millionen Reichsmark, die deutsche Juden für die Schäden zahlen mussten, die ihnen in der Pogromnacht angetan worden waren, über das Verbot jeder »jüdischen« Geschäftstätigkeit ab dem 1. Januar 1939, über die erzwungenen Verkäufe, über »Vermögensabgabe« und »Reichsfluchtsteuer«, über die Einfrierung des verbliebenen Restes von Verkaufserlösen auf Sperrkonten, die konfisziert wurden, sobald die nominellen Inhaber sich außerhalb des Reiches befanden, deportiert in die Vernichtungslager. Aus einem Kapitel Regensburger Stadtgeschichtsschreibung wird auf diese Weise eine exemplarische Darstellung der Stufen der Judenverfolgung in Deutschland während der NS-Zeit und der Rolle, die dabei die Finanzbürokratie spielte.
Am Ende des Raubzuges steht der fabrikmäßige Mord. Die erste große Deportation aus Regensburg fand am 4. April 1942 statt. Bierwirth stellt hier ein Kapitel über den ab 1940 verübten Mord an jüdischen und anschließend auch an nichtjüdischen Psychiatriepatienten voran. Denn in den Tötungsanstalten des »Euthanasie«-Programms vollzog sich »der Vorlauf und die technische Erprobungsphase für die ‚Endlösung‘ in den Vernichtungslagern in Polen«.
In einem Archiv stieß die Autorin auf einen Zufallsfund: knapp 20 Seiten über die Verfolgung und Deportation von 36 Sinti und Roma aus dem Zuständigkeitsbereich der Gestapo Regensburg. Mit einem knappen Exkurs erinnert sie daran, dass an dieser Minderheit ein ähnlicher Völkermord verübt wurde wie an den Juden.
Und nach dem Krieg? Mit Blick auf die Beamten der NS-Vermögensverwaltungsstellen stellt Bierwirth fest: »Wie alle durchliefen auch sie die Entnazifizierungsverfahren und verwiesen in der Befragung auf die NS-Politiker und deren Gesetze. Im Oberfinanzpräsidium Nürnberg mussten zunächst 20 der 30 höheren Beamten ihren Stuhl räumen. In den späten 40er Jahren waren sie wieder in ihren alten Funktionen.« So auch in Regensburg.
Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Jüdische Gemeinde Regensburg, hauptsächlich durch Zuzug aus osteuropäischen Ländern, von rund 200 auf mehr als 1000 Mitglieder angewachsen. Ein neues Gemeindezentrum einschließlich Synagoge wird gebaut. Die Zuwanderer werden sich mit der jüdischen Geschichte ihrer neuen Heimat beschäftigen und sie werden danach fragen, wie die Alteingesessenen sich damit auseinandergesetzt haben. Waltraud Bierwirths Studie fordert die Stadtgesellschaft heraus: Will sie weiterhin den Mantel der Vergessens über die Ereignisse von damals breiten? Oder offen auf die Neuen zugehen und Haltung zeigen?