Auch »kleine Rädchen« im Fokus
10. November 2017
Von späten juristischen Ermittlungen und früheren Versäumnissen
»Schuld, die nicht vergeht« – unter diesem Titel erschien Anfang Oktober 2017 ein Buch des Staatsanwalts und langjährigen Leiters der zentralen Stelle der Landesjustizanstalten zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Kurt Schrimm. Von 2000 bis 2015 war der 68-jährige Jurist Leiter dieser Untersuchungseinrichtung zur Aufklärung von Nazi-Kriegsverbrechen und hatte zuvor bereits als Staatsanwalt in Stuttgart bei der Verfolgung von Nazi-Tätern Erfahrungen gesammelt. Die Verurteilung von Josef Schwamberger, Alois Götze und John Demjanjuk waren dabei die größten Erfolge. Über 48 Seiten beschreibt er allerdings auch seine größten Misserfolge, bei denen Naziverbrecher aus unterschiedlichsten rechtlichen Gründen nicht verurteilt wurden. Das Buch ist ein spannendes Stück Zeitgeschichte, ein Plädoyer gegen das Vergessen und gegen jede Schlussstrichmentalität gegenüber den Nazi-Verbrechen. Der Autor hat sich über dreißig Jahren der Aufgabe gewidmet, die Nazi-Täter ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, sie aufzuspüren und zur Verantwortung zu ziehen. Er recherchierte dafür weltweit in Archiven, sprach mit den meisten Zeugen auf verschiedenen Kontinenten persönlich und ging vor allem in Südamerika und Osteuropa Hinweisen nach, wohin sich zahlreiche Kriegsverbrecher abgesetzt hatten oder versteckt hielten.
In seiner Amtszeit hat Kurt Schrimm auch die kleinen Rädchen in den Fokus genommen, ohne die das Mordgetriebe nicht funktioniert hätte. Denn nach dem Nürnberger Prozess und den Nachfolgeprozessen wurde die große Masse der NS-Täter von der Justiz nicht zur Rechenschaft gezogen, floh aus der Haft, wurde begnadigt, konnte untertauchen oder lebte unauffällig weiter. Bei der Aufklärung von Organisationsverbrechen hat der Jurist Neuland betreten und musste sich dabei Kenntnisse über Befehlswege und Organisationsstrukturen, über politische und soziologische Hintergründe verschaffen. Keiner der Täter, die angeklagt wurden, hat seine Taten je bereut. Manchen smart wirkenden Mitbürger brachte Kurt Schrimm aber in Bedrängnis. Erstmals wurde im Demjanjuk-Prozess 1998 das juristische Diktum durchbrochen, dass auch für Nazi-Verbrechen die persönliche Mordbeteiligung in Vernichtungslagern nachgewiesen werden musste. So existierte zwar eine Liste von 6.000 KZ-Aufsehern, die den Betrieb des Vernichtungslager Au-schwitz organisierten, aber kaum einer von ihnen wurde dafür zur Verantwortung gezogen. Allen Beteiligten musste jedoch klar sein, dass der alleinige Sinn dieser Lager die Vernichtung von Menschen war.
Mit dieser juristischen Position wurden nun Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit neu bewertet. Alle anderen grausamen Taten der SS-Leute, Wehrmachtsangehörigen und Hilfstruppen, einschließlich des Totschlags, waren ohnehin seit 1965 juristisch verjährt. Für seine Arbeit hat Schrimm die Begegnung mit einer 72-Jährigen Jüdin in New York geprägt, deren elf Geschwister und Eltern in Auschwitz ermordet wurden. Sie hatte vierzig Jahre auf den Tag gewartet, dass ein Vertreter des deutschen Staates sich dafür interessiert, was in jenen Tagen geschah.
Nur wenige Rechtshindernisse zur Verfolgung von Kriegsverbrechern wurden ausgeräumt, wie die Einführung der Nichtverjährung für Mord ab 1965 und die Gründung der zentralen Ermittlungsstelle der Länder zur Aufklärung von Kriegsverbrechen in Ludwigsburg, die nun zentral ermitteln aber nicht selbständig anklagen konnte. Schließlich wird auch die fehlende Zusammenarbeit ausländischer Staaten mit der BRD bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern genannt. Die Zusammenarbeit mit der polnischen Justiz sei diesbezüglich eine seltene Ausnahme. Die juristische Hilfestellung der DDR sei Anfang der 60er Jahre nicht angenommen worden und spätere Hilfegesuche an die DDR seien nicht beantwortet worden. Auch die Akten der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) über 34.270 Deutsche und weitere Verdächtige seien der deutschen Justiz nicht zugänglich gewesen.
Es stellt sich die Frage, wer politisch dafür verantwortlich ist, dass die vielen Rechtshindernisse zur Verfolgung von Kriegsverbrechern in der BRD nicht beseitigt wurden, um deren effektive Verfolgung zu ermöglichen. Über diese politische Verantwortlichkeit spricht der Autor nicht, auch nicht über die Verantwortung der Juristen, Staatsanwaltschaften und Experten, mit diesem Wissen die Öffentlichkeit, die Presse und die Politik zu konfrontieren. Kurt Schrimm bedauert, dass eine effektive und systematische Ermittlung gegen Kriegsverbrecher erst ab 1958 mit der Errichtung der Zentralstelle in Ludwigsburg möglich wurde. Eine Erklärung, warum dies erst so spät erfolgte, hat auch er nicht.