Nichts gehört der Vergangenheit an
8. Dezember 2018
Zum 70. Jahrestag der Charta der Menschenrechte
Bei den Vorarbeiten für diesen Artikel habe ich Heinrich Hannover gefragt, ob ihm die Charta der Menschenrechte als Verteidiger vor Gericht jemals von Nutzen gewesen sei. Seine Antwort: »Ich habe sie nie gebraucht.« Bin ich von falschen Vorstellungen ausgegangen? Spielt die Charta der Menschenrechte vor Gericht keine Rolle?
Die offiziell so bezeichnete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der UNO-Vollversammlung beschlossen worden ist, enthält in der Tat nur unverbindliche Empfehlungen. Sie können nirgendwo eingeklagt werden. Dazu hätte der Sicherheitsrat einen entsprechenden Beschluss fassen müssen. Das ist nicht geschehen. Anders verhält es sich mit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die am 4. November 1950 von den Mitgliedsstaaten des Eurorates unterzeichnet worden ist. Sie deckt sich weitgehend mit Menschenrechtscharta und erlangte am 7. August 1952 für die Bundesrepublik Deutschland Gesetzeskraft. Verankert sind die Menschenrechte auch in den ersten fünf Artikeln des Grundgesetzes.
Insofern leben wir rechtlich auf sicherem Grund, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Inzwischen wird die Charta der Menschenrechte, die ja auch dem Frieden dienen soll, zur Bemäntelung von Angriffskriegen benutzt. Stichwort: Humanitäre Intervention. Für die Fachwelt ist die Erklärung der Menschenrechte eine direkte Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die Verbrechen Hitlerdeutschlands. Das gilt übrigens auch für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch weigert sich die Bundesregierung, das Grundgesetz als antifaschistisch zu bezeichnen. In der Präambel der Charta heißt es, die grauenhaften Verbrechen des Naziregimes erfüllten »das Gewissen der Menschheit mit Empörung«. Die Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit ist ein Affront gegenüber der gesamten zivilisierten Welt.
Den Grundstein für die Charta legte die von der UNO 1946 eingesetzte Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die im Jahr darauf unter Leitung von Eleanor Roosevelt ihre Tätigkeit aufnahm. Das Verhandlungsklima war bereits von dem Konflikt zwischen den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges geprägt, sodass am Ende ein schwierig ausgehandeltes Kompromiss stand, der unterschiedliche Auslegungen zulässt. Gleichwohl handelt es sich um ein Dokument von unschätzbarem Wert, dessen 30 Artikel im weltweiten Kampf um die Würde des Menschen als gemeinsame Orientierung gelten.
Noch immer sind die Menschen zu wenig vor willkürlicher Gewalt durch die Regierungen geschützt. Sie betrachten den Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte als Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihres Landes. Am augenfälligsten wird die Missachtung der Menschenrechte dort, wo Hunger die Menschen an einem lebenswerten Leben hindert und Frauen immer noch als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Dass der Friedensnobelpreis in diesem Jahr an zwei Menschenrechtsaktivisten ging, verdeutlicht die Bedeutung der Menschenrechte für das friedliche Zusammenleben. Die irakische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad und der kongolesische Arzt Denis Mukwege stünden für den »Schrei nach Menschlichkeit« erklärte die Bundesregierung in einer Stellungsnahme zur Entscheidung des norwegischen Nobelpreiskomitees.
Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, auch der Nachkriegsgeschichte, verbietet sich eine Politik des erhobenen Zeigefingers. Mit den Berufsverboten hat die Bundesrepublik Deutschland tausendfach gegen die Menschenrechte verstoßen und wurde wegen ihrer Repressalien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Noch schlimmer erging es den Opfern des Naziregimes und den Kämpfern gegen den Faschismus, denen aus politischen Gründen Wiedergutmachungszahlungen und Entschädigungsrenten aberkannt wurden. Ähnliches gilt für den Rachefeldzug der westdeutschen Justiz gegen Richter und Staatsanwälte der DDR, bei dem nach dem Freispruch für die Nazijustiz grundlegende Rechtstaatsprinzipien über Bord gingen.
Wer nach den Gründen der Rechtsentwicklung in den neuen Bundesländern sucht, sollte über dieses Unrecht nicht hinwegsehen. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hat nach den Erfahrungen der Nazizeit den Kampf um die Menschenrechte zu seinem Lebensthema gemacht. An seinem Frankfurter Amtssitz ließ er in ehernen Lettern den ersten Satz des Grundgesetzes anbringen: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Von ihm selbst stammt der Satz: »Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.« 70 Jahre nach Verabschiedung der Charta der Menschenrechte hat er nichts von seiner Bedeutung verloren.