Erinnerung nach vorn
31. Januar 2019
Wenn der Naziterror verhindert worden wäre…
Auf ganz eigene Art gestalteten Schüler*innen des Leistungskurses Geschichte des Gymnasiums Dreieichschule im südhessischen Langen eine Gedenkveranstaltung für die Opfer der NS-Pogrome vor 80 Jahren.
Am Mahnmal der ehemaligen Synagoge stellten sie drei Gäste vor mit entsprechenden Auftritten.: Laura, aus der 10. Klasse des Andreas-Gymnasiums in Berlin, Rosalie Sichel, auch aus der Dreieichschule und Max Baker von der Oregon High School aus Wisconsin, USA.
»Im Rahmen des Geschichtsunterrichts«, so berichtete Laura, »haben wir alle die Aufgabe übernommen, etwas über unsere Vorfahren herauszufinden. Dabei habe ich viel Interessantes in Erfahrung bringen können«:
Die Großeltern väterlicherseits, Markus und Ella Reuther, geborene Lazarus, hätten 1960 in Frankfurt geheiratet. Aus der Ehe ging Lauras Vater Robert hervor. Lauras Urgroßeltern Walter und Gertrud Fanny Lazarus haben 1930 in Langen den Familienbetrieb, eine Tricotwarenfabrik, die von Großvater Moses Lazarus gegründet worden war, von den Eltern übernommen…. »Dies ist die Geschichte meiner Familie, eine ganz gewöhnliche Familie«, beendet Laura ihre Erzählung.
Max Baker, auch auf biografischer Forschungsreise, berichtet über seine im Jahr 1904 in Langen geborene Ur-Oma Johannette Eppstein. 1928 habe sie ihr zweijähriges Studium in Frankfurt begonnen, sei später wieder nach Langen und 1935 zurück nach Frankfurt gezogen. Im Dezember 1941 wurde sie in ein Konzentrationslager nahe Riga deportiert.
»Nach der Befreiung 1945 durch die Rote Armee emigrierte meine Uroma in die USA. Dort lernte sie Manfred Richards kennen, der ebenfalls deutsche Wurzeln hatte. 1947 wurden meine Großmutter Evelyn und ihre Zwillingsschwester Marian geboren. Im selben Jahr heiratete sie Manfred und bekam 1969 ihr erstes Kind Sophie. … Meine Mutter Sophie heiratet mit 24 Jahren und sechs Jahre später wurde ich geboren… Das ist die Geschichte meiner Familie. Eine ganz gewöhnliche Familie, die nach Kriegsende ein normales Leben in den USA führte«, sagte auch Max.
Rosalie Sichel stellt sich als Schülerin der Dreieichschule Langen vor und erzählt die letzte Geschichte. Ihre Urgroßmutter Ilse habe ihr oft von ihrem Leben als jüdisches Mädchen in den 1930er Jahren erzählt. »Mein Opa Johannes und mein Vater Jörg wissen nicht viel über die Kindheit meiner Urgroßmutter … nur, dass sie unter den Nazis Schreckliches durchlebt hat. Mir gegenüber hat sie sich geöffnet. »Irgendjemand müsse ja Bescheid wissen,« sagte sie, »was aus uns wurde, was sie uns angetan haben. …« Ihr Opa Johannes habe sich gegen das Vergessen engagiert, sich begeistert an den Studentenprotesten beteiligt und sei später auf eine junge Flüchtende aus Ostberlin, Rosalies spätere Oma Eva getroffen. Fünf Jahre später sei Rosalies Vater Jörg geboren worden.
»Das waren die drei gewöhnlichen Geschichten von drei Schülern in unserem Alter«, beendeten die drei ihre Berichte.
Bis hierhin waren die Zuhörenden den Erzähler*innen voller Spannung gefolgt. Waren die Vorfahren der jungen Leute doch alle aus Langen gewesen, frühere Nachbarn und Freunde der eigenen Familie. Ihre Lebensgeschichten fesselten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gedenkveranstaltung.
Doch dann kam die große Ernüchterung: »Diese drei Schüler*innen hatten nie die Chance geboren zu werden«. »Das Regime unter Hitler beraubte Millionen von Juden ihrer Besitztümer und ihrer Leben«, stellten die Vortragenden fest.
Die schockierende Realität sah so aus: Im Novemberpogrom 1938 zerstörten die Nazis die Textilfabrik Lazarus und löschten die Familie nach und nach aus. Laura Reuther wurde nie geboren. Gertrud Fanny Lazarus war 1941 nach Sobibor deportiert worden, wo sie ermordet wurde.
Rosalie Sichels Uroma Ilse hat ihr nie etwas von ihrer Kindheit erzählen können. Sie wurde 1941 nach Minsk deportiert, wo sie ihr Leben verlor. Rosalie konnte, so wie viele andere auch, nie geboren werden.
Max Bakers Urgroßmutter Johannette Eppstein erlebte die Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee nicht mehr und starb nahe Riga. Die Emigration in die USA hat es nie gegeben, genauso wenig wie Max selbst.
»Wir können die Menschen nicht von den Toten zurückbringen, auch können wir ihre Schicksale nicht verändern. Wir können aber gedenken, die Erinnerungen wach halten und daraus lernen, um dafür zu sorgen, dass diese tragischen Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten. Damit wir verhindern, dass in Zukunft und im Hier und Jetzt so etwas passiert…«
So beendeten die Schülerinnen und Schüler die Gedenkfeier. Sie stellten anschließend den Bezug zu den Ausschreitungen in Chemnitz her, um auf die Aktualität rechter Entwicklungen hier und heute aufmerksam zu machen.
Sie hinterließen am Ende ihrer gelungenen außergewöhnlichen Gedenkfeier eine betroffene und nachdenkliche Zuhörerschaft.