Von »Mutter Erde« zur »Tragenden«
16. September 2019
Leben, Werk und Wirkung des deutschen Bildhauers Will Lammert (1882-1957)
Als am 12. September 1959 die Mahn- und Gedenkstätte für das ehemalige Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingeweiht wurde, war derjenige Künstler, mit dessen Schöpfungen die Gestaltung der Gedenkstätte am engsten verbunden ist, schon zwei Jahre tot.
Will Lammert war 1957 im Alter von 65 Jahren gestorben, ohne seine 1954 begonnenen Arbeiten für Ravensbrück abschließen zu können. Die Bildhauer Fritz Cremer und Hans Kies vollendeten die zentrale Skulptur der »Tragenden«, und vergrößerten sie auf die heutige Höhe (auf dem Pylonen insgesamt 4,60m) und vollendeten auch noch andere Figuren Lammerts. Will Lammerts Ideen für eine Figurengruppe, die rund um den Fuß der Stelle der »Tragenden« gruppiert werden sollte, wurde geändert. Soweit die Figuren vollendet waren, wurden sie in Berlin in der Großen Hamburger Straße aufgestellt.
Als Lammert 1933 Deutschland fluchtartig verlassen musste, weil die Nazis ihn wegen angeblichen Hochverrats zur Fahndung ausgeschrieben hatten, hinterließ er ein umfangreiches, vielgestaltiges, zum Teil weltberühmtes Werk, darunter Antikriegsmahnmale und viele Frauengestalten, unter ihnen nicht wenige, die heute als klassischer Expressionismus gelten.
1931 erhielt Lammert ein Stipendium der Preußischen Akademie der Künste und durfte ein Jahr lang in deren Villa Massimo in Rom arbeiten. Lammert hatte in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg an markanten Antikriegs-Denkmalen gearbeitet und wurde in den 1920er Jahren zu einem Exponenten des klassischen Expressionismus in der Plastik. Er hatte ein sicheres Urteil und eine sichere Hand und galt in Gestaltungsfragen als Vorbild für die jüngere Generation von Bildhauern im Rheinland und in Westfalen, die seinen fachlichen und politischen Rat suchte und schätzte.
1932 trat Lammert in die KPD ein. Nach der Machtübertragung an die Nazis musste er 1933 Deutschland verlassen. Lammert emigrierte mit seiner Familie nach Frankreich. Doch Frankreich hieß ihn nicht willkommen, er fand weder ein Atelier noch konnte er Aufträge bekommen. 1934 wies ihn Frankreich aus. Die nächsten 18 Jahre verbrachte er in der Sowjetunion, ohne eigenes Atelier und ohne größere Aufträge. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion wurde er interniert, in die Arbeitsarmee eingezogen und nach Kasan verbannt. Nach Kriegsende wurde er in eine Spezialverbannung »auf ewig« geschickt. Erst Ende 1951 durfte er die Sowjetunion verlassen und nach Deutschland zurückkehren.
Von den Nazis als »jüdisch versippter Kunstbolschewist« verfemt, wurde sein in Deutschland hinterlassenes Lebenswerk, soweit es in Museen, auf Friedhöfen oder in öffentlichen Anlagen stand, systematisch zerstört, zertrümmert und die Bronzen eingeschmolzen. Nur einige Kleinplastiken in Privatbesitz überlebten diese barbarische Zerstörungsorgie.
Als Lammert 1951 aus dem sowjetischen Exil zurückkehrte, wurde er in der soeben gegründeten DDR zum Mitglied der Akademie der Künste berufen. Er führte eine Meisterklasse dieser Akademie und stürzte sich im vorgeschrittenen Alter in die Arbeit. Mit Berserker-Kraft bewältigte der frühere Steinbildhauer auch die körperlich anstrengendsten Arbeiten und schuf in seiner letzten Lebensphase neben sehr gelungenen Porträtplastiken, z. B. von Friedrich Wolf, Karl Marx, Eduard von Winterstein, bedeutende Arbeiten von Weltgeltung. Verwiesen sei auf seine Sandsteinstatue von Thomas Müntzer in Mühlhausen und seine Statuen, die heute in Ravensbrück stehen. Die »Tragende« in Ravensbrück zählt zu den bedeutendsten Skulpturen deutscher Bildhauer im 20. Jahrhundert.
Als die Regierung der DDR ihm 1954 den Auftrag für die Gestaltung der Skulpturen in Ravensbrück erteilte, hätte sie in ganz Deutschland keinen besser geeigneten Bildhauer finden können. Er war ein durch viele Jahrzehnte in verschiedenen Genres, Stilrichtungen und Materialien überaus erfahrener Bildhauer, der kunsttheoretisch über ein sicheres Urteil verfügte sowie auch kunstpraktisch als Steinbildhauer.
Außerdem hatte Lammert viele Erfahrungen in der Gestaltung von Skulpturen, die für den öffentlichen Raum gedacht waren, darunter für Antikriegsmale, Friedhöfe und ähnliche Orte bzw. Einrichtungen, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. So ist eine gerade Linie seines Schaffens von der Figur »Mutter Erde nimmt ihre Kinder zurück« von 1926 auf dem Essener Südfriedhof bis zur »Tragenden« von Ravensbrück erkennen.