Offener Brief von Günter Pappenheim an Minister Scholz.
3. Februar 2020
Mein Vater, Ludwig Pappenheim, war in Schmalkalden einer der Mitbegründer der SPD, also Sozialdemokrat wie Sie.
Am 25. März 1933 verhaftete man ihn und ordnete »Schutzhaft« an. Nach Misshandlungen und Folter brachten ihn die Hitlerfaschisten am 4. Januar 1934 bestialisch um. Ich wurde am 14. Juli 1943 von der Gestapo verhaftet und zum Häftling Nummer 22514 im Konzentrationslager Buchenwald. Am 19. April 1945 gehörte ich zu den 21.000 Überlebenden dieses Lagers und leistete den »Schwur von Buchenwald«.
Viele von den Hitlerfaschisten Verfolgte organisierten sich 1947 in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Dieser größten deutschen überparteilichen Verfolgtenorganisation, wird fünfundsiebzig Jahre nach dem Schwur von Buchenwald die Gemeinnützigkeit entzogen. Lässt sich vorstellen, wie ich mich als Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos schäme, meinen Kameraden sagen zu müssen, dass wir in Deutschland, das sich rühmt, ein freiheitlich demokratischer Rechtsstaat zu sein, regierungsamtlich wieder Verfolgte sind?
Soll ich meinen Kameraden erklären müssen, dass die vom AfD-Funktionär, dem Faschisten Höcke geforderte »geschichtspolitische Wende um 180 Grad« jetzt staatlicherseits betrieben wird, indem mit fadenscheinigsten Begründungen der Verfolgtenorganisation die materielle Handlungsfähigkeit entzogen wird?
Muss ich meinen französischen Kameraden jetzt erklären, dass in Deutschland Antifaschismus nicht gemeinnützig, weil politisch ist?
Es ist eine Schande, dass mit der Zerschlagung dessen, was wir 1945 als antifaschistischen Konsens verstanden, gewartet wurde, bis fast keine Zeugen faschistischer Verbrechen mehr vorhanden sind, um ihre protestierende Stimme erheben zu können.