Die Spuren von Pete Seeger
23. März 2020
Wer kennt sie nicht, die Songs von Pete Seeger – Where have all the flowers gone, Turn, turn, turn oder If I had a hammer, Songs, die ihn zum Vater des Folkrevivals machten. Immer trat er für die Sache der Arbeiter ein, für Rassengleichheit, Frieden und Bürgerrechte; als Kommunist geriet er zwischen die Mühlsteine der McCarthy-Ära, was ihn siebzehn Jahre lang vom US-amerikanischen Rundfunk verbannte. Er fand andere Wege, sang in Schulen, bei Jugendtreffen und vor Gewerkschaftern – und mit seinem Segelschiff Clearwater stellte er sich an die Seite derer, die sich für saubere Flüsse, einen sauberen Hudson einsetzten. Power of Song, der ihm gewidmete Dokumentarfilm, lässt ihn wunderbar zu Wort kommen, auch seine Weggefährten Arlo Guthrie, Joan Baez, Bob Dylan, Johnny Cash, Bruce Springsteen, und natürlich seine Familienangehörigen.
An jenem Abend im Winter 2009 gehörte ich zu den ältesten Besuchern im Kino Babylon in Berlins Mitte. The Power of Song schickte mich auf eine innere Weltreise. Ich sah mich als jungen Mann von Melbourne nach Sydney zum Fest der Eureka Youth League trampen, an die tausend Kilometer in Wind und Wetter, und immer an der Küste entlang, vorbei an Port Phillips Bay bis hin nach Wonthaggi, wo ich bei einer Bergarbeiterfamilie unterkam, und am Morgen weiter bis Bairnsdale am Tasmansee und von dort in einem Plymouth, den ein raubeiniger Unternehmer fuhr, der sich Jack nennen ließ und eine Mary als Begleiterin hatte, die irgendwie verzweifelt wirkte. Die beiden brachten mich bis Batemans Bay am Pazifik, von wo es, gemessen an australischen Entfernungen, nicht mehr weit bis Sydney war. Dort fand ich mich auf einer großen Wiese mit schattigen Eukalyptusbäumen ein, und schon von fern schallte mir der Song »If I had a hammer« entgegen, und ja, es war ein Fest der Jugend, mit Losungen und Fahnen, und ob ich in den Nächten zwischen Freitag und Montag mehr als insgesamt zehn Stunden schlief, ist fraglich.
Drei verwegene Typen brachten mich in einem klapprigen Ford zurück nach Melbourne, was fünf Tage dauerte, wegen der Pannen, aber auch der trampenden Mädchen wegen, mit denen die drei den Ford überfrachteten. In unseren Köpfen war Pete Seeger mit dabei und die Lieder, die er zum Banjo und zur Gitarre sang.
Jahre später, im fünfundfünfziger Jahr, auf der Neptunia, die uns Delegierte zu den Weltjungendfestspielen in Warschau von Sydney nach Genua brachte, war das wieder so, denn einer in der Gruppe besaß ein Songbook mit Petes Liedern. Er konnte Noten lesen und sang los, und wir sangen mit, übten uns in Pete-Seeger-Songs, bis wir glaubten, in Warschau bestehen zu können … Where have all the flowers gone?
Zwei Mal erlebte ich den Sänger später im Berliner Osten, hörte ihn live – diese Kraft in der Stimme, die Überzeugungskraft, und wie er virtuos Gitarre und Banjo zum Klingen brachte. Turn, turn, turn …
Jahre später im Central Park, New York, bei einer Rallye for Peace, da war die Menge um Pete Seeger so dicht, meine Entfernung zu ihm so weit, ich sah ihn wie durch ein umgekehrtes Fernrohr, hoch und schlank und hager hinterm Mikrophon. Doch über die Lautsprecher hörte ich ihn gut – das Lied vom Hammer und das von den Blumen, und Turn, turn, turn. Das war das dritte und letzte Mal, dass ich ihn live erlebte, aber im übertragenen Sinn war er noch oft zugegen: nach dem Mord an Martin Luther King am 4. April des Jahres 1968 beim Poor Peoples March von Memphis, Tennessee bis Washington D. C., dort schallten seine Lieder durch die Lautsprecher über die Köpfe der Menge weg bis hin zum Weißen Haus. Joan Baez sang und Phil Ochs, und bis heute habe ich Joans helle glasklare Stimme im Ohr und Phil Ochs’ stählerne zur Gitarre.
Und wo noch war Pete Seeger dabei? In San Franciscos Berkeley, als Studenten zu Tausenden gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gingen, auch Judy Bates, die junge Hebamme, die mir viel bedeutete damals, und die mir für meine noch kleine Tochter Deborah ein Cookie Monster mit auf den Weg nach Berlin gab, eine blaue Handpuppe mit riesigem Mund, Judy Bates, die wir dann, vom Polizeiknüppel blutig geschlagen, zur Klinik in Fremont bringen mussten …
Und auch 1972 in Los Angeles nach Angela Davis’ Freispruch war Pete Seeger im Geiste zugegen, und später im Madison Square Garden New York, da wurde Angelas Sieg gefeiert, und auch in Montevideo damals, wo Delia Murillo und ich an der Kundgebung der Künstler für Kuba teilnahmen und uns das Lied Guantamera noch in den Ohren klang, als wir im Strom der Demonstranten durch Pueblo Victoria zogen und am Ende vor einer Wolke beißendem Tränengas in eine Seitengasse geflohen waren, wo wir in einem Hauseingang Schutz suchten …
Mit Blick ins Tal über den Hudson River lebte Pete Seeger bis zum Jahr 2014, dem Jahr als er starb, in Beacon, einem kleinen Ort knapp zwei Stunden nördlich von New York City, in einem Blockhaus, das er sich selbst gebaut hatte. Im hohen Alter von über neunzig durfte er von sich sagen: »Ich habe von meiner Musik gelebt. Ich bin für die Menschen aufgetreten, die mit mir singen wollten. Was mehr kann man sich wünschen?«
Der Schriftsteller Walter Kaufmann, geb. 1924, war von 1985 bis 1993 Generalsekretär des PEN-Zentrums der DDR. Im Jahre 2007 hat er gemeinsam mit rund 50 weiteren Antifaschisten in Potsdam den Landesverband Brandenburg der VVN-BDA gegründet.