Es muss gehandelt werden
21. Mai 2020
Rede von Günter Pappenheim zu 75 Jahre nach der Befreiung des KZ Buchenwald
In einer außergewöhnlichen Situation äußere ich mich. Die Corona–Pandemie hat die Welt in den Griff genommen. Um Menschen vor Covid-19 zu schützen, sind vielfältige Maßnahmen getroffen worden. Unter diesen Bedingungen über die Befreiung und Selbstbefreiung der Häftlinge des faschistischen Konzentrationslagers Buchenwald zu sprechen, ohne in die Gesichter der Menschen sehen zu können, ist für mich neu.
Der soziale Kontakt hat für mich so große Bedeutung, weil er mir nach meiner Einweisung in das Konzentrationslager Buchenwald das Leben rettete. Als 19-jähriger politischer Häftling war ich wenig erfahren. Gnadenlos wäre ich dem Mordterror der SS ausgeliefert gewesen, hätten mir nicht erfahrene Kameraden beigestanden.
Es kam der 11. April 1945. Mein Vorarbeiter, der Dresdener jüdische Kamerad Leonhard stürzte mit der Nachricht in die Gerätekammer, er habe Häftlinge mit Waffen im Lager gesehen. Aus den Lautsprechern, aus denen soeben noch Kommandos zu hören waren, die den Tod bedeuten konnten, sprach der Lagerälteste Hans Eiden: »Kameraden! Wir sind frei!«
Mit der Erfahrung von Buchenwald und im Bewusstsein der Kraft der Solidarität trat ich am 1. August 1947 in die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) ein. Deren politische Arbeit war und ist auf die Verwirklichung der programmatischen Sätze des Schwurs von Buchenwald gerichtet.
Es gibt erstarkende Kräfte, die Nationalismus und völkisches Denken neu beleben. Rassismus, Fremdenhass, Antisemitismus und Antiziganismus sollen ideologisch befördert werden. Populisten nutzen politische Stagnation und soziale Fehlentwicklungen, um in die Irre zu leiten. Leider haben sie dabei Erfolge in Parlamenten aller Ebenen – hier bei uns zu Hause. Der Tabubruch von Erfurt am 5. Februar 2020 war ein Putschversuch im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten. Uns verbietet es sich, mit dem Finger auf andere Länder zu zeigen.
Nicht erst seit Bekanntwerden des Terrors des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) wird uns die Mär vom Einzeltäter aufgetischt, der in seiner psychischen Entwicklung gestört sei. Dass ein gesellschaftlicher Hintergrund und ein ideologisches Umfeld entscheidenden Einfluss auf die Motivbildung der Täter haben, wird geflissentlich unterschlagen. Der Mord an Walter Lübcke in Wolfhagen, die Morde in Hanau und Halle haben ebenso wie das Angreifen oder Abfackeln von Flüchtlingsunterkünften politische Zielsetzungen. Wenn offen gefordert wird, die Erinnerungskultur in Deutschland um 180 Grad zu wenden, und die Verbrechen der deutschen Faschisten zum »Vogelschiss« der Geschichte mutieren, so ist das geistige Brandstiftung. Es wird ein ideologisches Umfeld für politisch motivierte Gewalt geschaffen.
Ich und meine Mitstreiter in der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora haben immer großen Wert darauf gelegt, mit jungen Leuten ins Gespräch zu kommen. So können wir am besten unser Wissen und unsere Erfahrung weitergeben. Wir stellen fest, dass die Vermittlung von Wissen über die Zeit des Faschismus und die begangenen Verbrechen in den Schulen rückläufig und teilweise gar nicht mehr vorhanden ist. Wir sehen einen sehr ernst zu nehmenden Zusammenhang zwischen der Zunahme rechtsextremistischer Handlungen und fehlendem historischen Wissen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Die Tatsache, dass wir den 75. Jahrestag der Befreiung und Selbstbefreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald nicht in gewohnter Weise begehen können, betrübt besonders uns wenige Überlebende. Wenn nach Abklingen der Corona-Krise vieles neu gedacht und gemacht werden muss, fordere ich die Nachkommenden auf:
- Lasst nicht zu, dass vergessen wird, was in Buchenwald geschah und ordnet es ein in das Furchtbare, das durch die Hitlerfaschisten in der Welt angerichtet wurde.
- Erinnert und gedenkt der Apriltage 1945 in Buchenwald.
- Bewahrt den Schwur von Buchenwald, denn es gibt keine Alternative zu einer Welt des Friedens und der Freiheit ohne Faschismus, wenn die Menschheit überleben will.
- Scheut keine Mühe, wenn es darum geht, den antifaschistischen Konsens immer neu, auch international, zu beleben.