Die Urteilskraft
12. September 2020
Eine Ausstellung gibt Einblicke in die Gedankenwelt von Hannah Arendt
Nichts Geringeres als die »politische Geschichte des 20. Jahrhunderts« will das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin mit einer Ausstellung über die Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1976) erzählen. Ihre Werturteile zu den Themen der Zeit und die Kontroversen, die sie auslöste, sind Kern der Ausstellung.
Lebensweg
1906 in ein säkular-jüdisches Elternhaus geboren, identifizierte sie sich stets als Jüdin und betrachtete die Weltlage aus dieser Perspektive. Diese Einstellung illustriert der spätere Satz von ihr: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen.“ 1924 begann sie ein Philosophiestudium bei Martin Heidegger in Marburg und wechselte 1928 zur Promotion an den Lehrstuhl von Karl Jaspers nach Heidelberg. Schon damals veröffentlichte sie unter anderem in der Frankfurter Zeitung und jüdischen Zeitschriften. Ihr Thema war und blieb die Eigenständigkeit jüdischen Lebens und die Verweigerung von Assimilation.
Sie emigrierte 1933 zunächst nach Paris, nachdem sie wegen ihrer Tätigkeit in einer zionistischen Vereinigung für acht Tage in Gestapo-Haft war. Sie brach mit allen jüdischen Intellektuellen, die sich »gleichschalten« ließen und propagierte eine offene Feindschaft zum NS. Diese Haltung isolierte sie und verschaffte ihr gleichzeitig die Kraft, zu urteilen und das Echo zu ertragen. 1940 wurde sie im französischen Gurs interniert, aber ihr gelang die Flucht über Lissabon nach New York. Dort publizierte sie viel zur Flüchtlingsfrage (auch zur eigenen Staatenlosigkeit) und mischte sich in die Debatte um den Kriegseintritt vor allem jüdischer Menschen ein.
Nach dem Krieg arbeitete sie für eine Organisation zur Sicherung jüdischen Kulturguts und bereiste fast jährlich Europa und Israel. Aus ihren Reisen entstanden tiefgründige Einblicke in die Nachkriegsordnung. Dabei arbeitete sie heraus, wie sehr sich der deutschen Umgang mit den eigenen Verbrechen von denen der Nachbarländer unterschied. Arendt konstatierte: Ganz Europa versinkt in Trauer, während sich die Deutschen, vollkommen emotionslos, selbst als Opfer betrachteten.
Banalitäten und totale Herrschaft
Weithin bekannt ist sie für ihre Arbeit zu »Formen totaler Herrschaft«, in der sie auf Parallelen in der Entwicklung von Nationalsozialismus und Stalinismus hinweist. Ihre These, dass sich totalitäre Bewegungen jeder beliebigen Ideologie bemächtigen und mit Terror zu totalitärer Herrschaft kommen können, wird bis heute von der Politikwissenschaft genutzt. Grundbedingungen totalitärer Herrschaft sind Massenbewegungen, die auf alle Sphären des Lebens abzielen, die Rechtsordnung nicht nur in den Köpfen, sondern auch faktisch umbauen und imperialistisch-rassistisch nach Weltherrschaft streben. Arendt ist damit Wegbereiterin der umstrittenen Totalitarismustheorie.
Weltweit bekannt wurde Arendt mit ihrem Prozessbericht »Eichmann in Jerusalem«, der 1961 über Wochen in der Illustrierten »The New Yorker« abgedruckt wurde. In der Ausstellung nachzulesen sind vielfältige Reaktionen zu ihrer These »der Banalität des Bösen«. Eichmann erschien ihr als »Hanswurst«, der als Bürokrat gehandelt habe. Sie schluckte Eichmanns Verteidigungsstrategie und relativierte seine Funktion für den Holocaust, während sie die Rolle der Judenräte beziehungsweise die Kooperation mit den Vernichtern als (Mit-)Verantwortliche für die Auslöschung des eigenen Volkes überinterpretierte.
Anfeindungen aushalten
Arendts Umgang mit Kritik war bemerkenswert. Kein Jahr verging, in dem sie nicht provokative Thesen aufstellte. Sie ließ sich nur bedingt vom Gegenteil überzeugen und trotz des »Shitstorms« (das Wort gab es noch nicht, aber die Art und Weise schon) gelang es ihr, sich als Frau in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Das ist auch aus feministischer Perspektive beeindruckend. Vom Feminismus und von der Politisierung des Privaten hielt sie allerdings nicht viel. Die unbedingte Trennung der Lebensbereiche in politisch, sozial und privat durchziehen ihre Arbeiten, wenn es um den Freiheitsbegriff geht. Dieses verkürzte Verständnis von Emanzipation und Politik verleitete sie auch zu Forderungen, dass sich der Staat aus Diskriminierungsfragen heraushalten sollte. Obgleich der Staat selbst nicht diskriminieren dürfe (positives Recht für alle), müsse es ihm untersagt sein, einzugreifen, wenn soziale Gruppen andere diskriminieren. Und Privat solle sowieso jeder machen, was er wolle. Die Ausstellung hinterfragt solche Aussagen nur selten, und es wird nicht zu Ende gedacht, was diese Form des Liberalismus im Kern für Gesellschaften bedeutet. Erst der Katalog klärt durch prominente Autor*innen die Hintergründe auf und diskutiert ihre Thesen ausgiebig. Die Schau endet mit einer trivialen Zusammenstellung von Kleidungs- und Schmuckstücken Arendts sowie Videointerviews mit Schüler*innen eines Hannah-Arendt-Gymnasiums. In den Filmen überbieten sich die Jugendlichen gegenseitig, hinter dem eigenen Urteil zu stehen, egal wie problematisch dieses jeweils sein mag. Insgesamt ist die Ausstellung zu empfehlen, weil sie tatsächlich wichtige Stationen des 20 Jahrhunderts und unterschiedliche Deutungen dazu präsentiert.
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert, bis 18. Oktober im DHM Berlin, Sonntag bis Mittwoch 10-18 Uhr, Donnerstag bis Samstag 10-20 Uhr
Der Katalog zur Ausstellung ist herausgegeben von Dorlis Blume, Monika Boll und Raphael Gross. Bei Piper erschienen. 288 Seiten, 22 Euro