Radikalisierungsgeschichten

geschrieben von Paul Liszt

24. Oktober 2020

Strafprozesse gegen Rechtsterroristen beleuchten ihren Werdegang

Vor dem Berliner Landgericht findet der Prozess gegen André Maaß statt. Er soll ab Dezember 2018 insgesamt 107 Schreiben an Politiker*innen, Gerichte, Behörden und Personen des öffentlichen Lebens gesendet haben. Im April 2019 wurde er gefasst. Dem 32Jährigen aus Halstenberg (Kreis Pinneberg) wird Androhung von Mord, schwerer Körperverletzung und das Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen vorgeworfen. Die E-Mails waren jeweils unterzeichnet mit »Nationalsozialistische Offensive«. Zur Verschleierung der Identität wurden sie über Anonymisierungsdienste verschickt. Da die meisten Schreiben an Empfänger*innen in Berlin gerichtet waren, übernahm die Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen. Der Täter war bereits vor dem Prozess mit Brand- und Sprengstoffdelikten aufgefallen und unter anderem deswegen längere Zeit inhaftiert und psychiatrisch behandelt worden. Seit dem ersten Verhandlungstag im April sitzt Maaß in Untersuchungshaft. Im Rahmen des Strafprozesses wurde deutlich, dass sich sein soziales Leben vorwiegend online in der Wohnung seiner Eltern abspielte. Sein Zimmer war mit einschlägiger NS-Symbolik übersät. Die Familie tat dies als »Provokation« ab. Die bisherige Beweisaufnahme zeigte hingegen, dass es konkrete und länger geplante Absichten gab, Drohungen in die Tat umzusetzen. Dazu passt aber nicht das Bild vom rechten Einzelttäter, denn er tauschte sich im sogenannten Darknet mit Gleichgesinnten aus. Auch einer seiner Anwälte ist kein unbekannter. Thomas Penneke trat früher als Ordner bei NPD-Demos auf und vertritt seit seinem Jurastudium verschiedene Szenegrößen vor allem aus Mecklenburg Vorpommern. In dem Verfahren ist Martina Renner (MdB Linke) Nebenklägerin (siehe Seite 3 dieser Ausgabe). Sie wurde ebenfalls von Maaß bedroht. Das Verfahren verweist auf ein extrem rechtes Milieu, das sich abseits der bekannten Neonaziszene gebildet und vorrangig in geheimen Internet-Foren vernetzt hat.

Prozess als Bühne

Ungeklärt ist, welche Rolle das Internet bei der Radikalisierung von Stephan Balliet spielte. Der Rechts-terrorist wollte am 9. Oktober 2019 zu Jom Kippur einen Anschlag auf die Synagoge in Halle verüben. Als dies misslang, erschoss er eine Passantin und den Gast eines Dönerimbisses. Am 21. Juli begann die Gerichtsverhandlung gegen Balliet vor dem Oberlandesgericht Naumburg. Aufgrund des öffentlichen Interesses und der Sicherheitsvorkehrungen findet die Verhandlung gegen den 28Jährigen allerdings in Magdeburg statt. Dem Angeklagten wird zweifacher Mord und versuchter Mord in 68 Fällen vorgeworfen. Die Tat wurde durch Balliet live ins Internet übertragen, zudem veröffentlichte er dort ein von ihm erstelltes Bekennerschreiben. Das Video wurde später auch bei der Verhandlung gezeigt. Offensichtlich wird, dass der Rechtsterrorist die Verhandlung als Bühne nutzt, um seine antisemitische und rassistische Ideologie zu verbreiten. Dabei gelingt es der Vorsitzenden Richterin nicht, Balliet in die Schranken zu weisen.

Lübcke-Mord und der VS

Am Oberlandesgericht Frankfurt/Main geht es um den Mord am Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU). Angeklagt sind Stephan Ernst und Markus Hartmann. Geklärt werden soll, wer Lübcke am 1. Juni 2019 erschossen und wer Beihilfe geleistet hat. Schon früh wurde klar, dass die Bundesanwaltschaft kein Interesse an der Aufdeckung eines Netzwerks hinter den beiden hatte. Seit Juni dreht sich der Prozess überwiegend um die Stichhaltigkeit der Aussagen von Stephan Ernst, der nach der Festnahme den Mord gestanden, danach widerrufen hatte, um seinen Mitangeklagten zu belasten. Im August nahm Ernst erneut die Schuld auf sich. Auf Nachfrage der Familie gab Ernst zu Protokoll, die Tat zu bereuen. Zugleich gab er dem Mitangeklagten Hartmann die Schuld an der eigenen Radikalisierung. Dieser hätte ihn mit Schießübungen und politischen Diskussionen zur Tat verleitet. Der hessische Verfassungsschutz hatte nachweislich mindestens zweimal versucht, Hartmann anzuwerben. Im hessischen Parlament hat sich mittlerweile ein Untersuchungsausschuss zum Mordfall konstituiert. Dieser soll mögliches Versagen von Sicherheitsbehörden in dem Fall untersuchen. Denn der VS und die Länderpolizei führten das Duo nicht als aktive Neonazis, obwohl beide aktive Neonazis bis zu ihrer Festnahme waren.