Umgang mit Vergangenheit

geschrieben von Regina Girod

24. November 2020

Ein Vergleich US-amerikanischer und deutscher Erfahrungen

Unter dem provokanten Titel »Von den Deutschen lernen« hat sich die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman der Frage gestellt, »wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können«. Herausgekommen ist ein 600 Seiten starkes Buch, das Ende letzten Jahres auf Englisch und nun auch in deutscher Übersetzung bei Hanser erschienen ist. Titel und Untertitel dürften dem Verkaufserfolg des Buches hierzulande kaum zuträglich sein, mich jedenfalls hat die Kategorie des »Bösen in der Geschichte« genauso irritiert wie die Idee, dass in dieser Frage etwas von den Deutschen zu lernen sei. Zum Glück habe ich mich davon nicht abhalten lassen und konnte mich schnell auf die interessanten und streitbaren Ansichten der Autorin einlassen. Sie behandelt Fragen, vor denen auch Antifaschistinnen und Antifaschisten immer wieder stehen: Kann man überhaupt aus der Geschichte lernen? Ist das mehr ein gesellschaftspolitischer oder ein psychologischer Prozess? Welche Rolle spielen die politischen Bedingungen?

Das Schönste an ihrem Buch besteht für mich darin, dass sie das Thema nicht nur philosophisch, sondern am Beispiel ihres eigenen Lebens, ihrer ganz persönlichen Erlebnisse betrachtet. Sie nimmt die Leser mit auf eine Reise von der Geschichte in die Gegenwart, durch den Staat Mississippi und durch die Bundesrepublik, in der sie seit 20 Jahren lebt. Sie interviewt Beteiligte, beschreibt Erfahrungen und reflektiert Jahrzehnte kultureller und politischer Veränderungen. Susan Neiman ist Jüdin, sie wurde 1955 in Georgia geboren, zu ihren prägenden Erfahrungen gehört das Engagement ihrer Mutter in der Bürgerrechtsbewegung. Das ist auch jetzt der Anlass ihres Nachdenkens.

Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können (übersetzt aus dem Englischen von Christiana Goldmann). Hanser 2020, 576 Seiten, 28 Euro

Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können (übersetzt aus dem Englischen von Christiana Goldmann). Hanser 2020, 576 Seiten, 28 Euro

Sie fragt sich, ob aus den deutschen Erfahrungen im Umgang mit der faschistischen Vergangenheit etwas zu lernen ist für den Kampf gegen den Rassismus in den USA. Konkret geht es ihr um die Südstaaten, vor allem um Mississippi. Hier liegen die Wurzeln des Rassismus noch immer offen zutage. Im Gefolge des Sezessionskrieges wurde die Sklaverei abgeschafft und es folgte eine Praxis, die Neiman als Neosklaverei bezeichnet. Die Niederlage aber lebt bis heute im Gedächtnis vieler Weißer fort, moralisch kaum umbewertet. Susan Neiman vergleicht das mit dem Zustand, in dem sich die (West) Deutschen noch 20 Jahre nach der Zerschlagung des Faschismus befanden: kein Schuldgefühl, keine Scham, dafür ein Beharren darauf, selbst Opfer geworden zu sein. Und sie fragt, warum es unterdessen hier undenkbar ist, etwa Mörder und Kriegsverbrecher öffentlich zu ehren, in den Südstaaten dagegen nicht. Wie kann solch ein tradiertes kulturelles Selbstverständnis überwunden werden?

Die Beschreibung ihrer Erfahrungen in Mississippi hat mich erschüttert. Mir war nicht bewusst, wie ungebrochen Rassismus dort fortleben konnte. Auf der anderen Seite bringt die Autorin ihren Lesern aber auch das Winter Institute for Racial Reconciliation nahe, das bis 2018 an der Universität von Mississippi angesiedelt war. Was sie über die Arbeit dieses Instituts schreibt, das sich der Überwindung von Rassismus in allen Lebensbereichen verschrieben hat, könnten wir unter der Losung »Von den Amerikanern lernen« rezipieren.

Natürlich ist der Teil des Buches, in dem sich Susan Neiman der Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Deutschland widmet, für hiesige Leser besonders spannend. Sie blickt nicht als Unbeteiligte auf dieses Land, sondern als eine Frau, die sich fragt, ob sie ihre jüdischen Kinder hier großziehen kann. Und sie erhebt dabei Befunde, die dem deutschen Mainstream der letzten 30 Jahre widersprechen. Ihre Untersuchungen, wie in beiden deutschen Staaten mit der faschistischen Vergangenheit umgegangen wurde, bringen sie zu dem Schluss: Der Antifaschismus war für die DDR grundlegend und hat tatsächlich zu jenem moralischen Bruch geführt, den sie als notwendigen Umgang mit dem Bösen ansieht. Das abwertende Attribut »verordneter  Antifaschismus« kontert sie mit der These, dass der auf jeden Fall besser sei, als gar keiner. Natürlich sieht sie auch die Mängel, die dazu gehörten und die letztlich den Prozess des Lernens aus der Geschichte zersetzten. Doch sie begründet ihre Meinung, auch mit einer Reihe von Interviews, die mich berührt haben, weil ich von den Interviewten zum Teil noch niemals Ähnliches gehört oder gelesen habe.

Susan Neiman, die marxistischer oder gar kommunistischer Ideen nicht verdächtig ist meint, dass über Rassismus zu sprechen in den USA heute kein Tabu mehr sei, über »verordneten Antikommunismus« dagegen schon. Ohne Zweifel eine Parallele zur Bundesrepublik. Für sie war das jedoch kein Hindernis, in einer Diskussion über ihr Buch als Beleg für ihre Deutung den Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945 zu zitieren. Chapeau!

Die Videoaufzeichnung der Diskussion vom 8.10.2020 mit Jan Philipp Reemtsma findet sich hier:

https://einsteinforum.de/veranstaltungen/von-den-deutschen-lernen