Die Macht der Untätigkeit

geschrieben von Kevin Schal

4. Juli 2024

Staatliche Duldung rechter Hardliner als Strategie in den USA und Osteuropa

Die weitreichende Straflosigkeit, mit der rechte Hardliner neonazistischen Banden begegnen, steht im Widerspruch zu den Versprechungen von Ruhe und Ordnung, mit denen diese häufig ihre Wahlkampagnen führen. Doch lässt sich in dieser Tatenlosigkeit auch eine bewusste Strategie erahnen, Repression gegen politische Gegner und Minderheiten dort auszuüben, wo dem Staat selbst (noch) gesetzliche, gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Schranken gesetzt sind. Einige Beispiele aus der letzten Zeit lassen erahnen, worauf wir uns in Deutschland einstellen können.

Am 17. Mai 2024 wurde Daniel Perry in Austin, Texas (USA), begnadigt, seine 25-jährige Haftstrafe muss er nicht absitzen. Eine Jury hatte ihn ein Jahr zuvor wegen Mordes schuldig gesprochen. Perry hatte bei dem Versuch, sich im Juli 2020 mit seinem Auto einen Weg durch eine »Black Lives Matter«-Manifestation zu bahnen, den damals 28-jährigen Demoteilnehmer Garrett Foster in Austin erschossen. Vor Gericht rechtfertigte er die Tat damit, dass er sich von Foster bedroht gefühlt habe. Die Jury verurteilte ihn nicht zuletzt deshalb, weil er sich zuvor in sozialen Medien in rassistischen Tiraden ergangen und Gewaltfantasien gegen eben jene Demonstrant*innen zur Schau gestellt hatte. Seine Begnadigung verdankt er nun dem rechten Gouverneur und Trump-Anhänger Greg Abbott. Die Macht der Untätigkeit weiterlesen »

Doppelt berührend

geschrieben von Kristin Caspary

4. Juli 2024

Ein Buch zu den unter den Nazis als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten

»Freiheit besteht im Fehlen vom Zwang, Böses zu tun«, so hielt Leo Tolstoi es 1851 in seinem Tagebuch lapidar fest. Das Wort Böses enthält eine normativ moralische Wertung, die der russische Schriftsteller in dem Sinne vermutlich nicht beabsichtigte. Ihm ging es viel mehr um eine Beschreibung einer Gesellschaft, in der gesetzwidriges und unangepasstes Verhalten, Delinquenz und Devianz sich als Akte der Notwehr äußern.

Denjenigen Menschen, die im Ringen um ein erträgliches, den Lebensunterhalt sicherndes Auskommen im Nationalsozialismus straffällig wurden und in der Folge in Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurden, widmet Frank Nonnenmacher den vorliegenden Band. Er versammelt, neben Beiträgen zur historischen Kontextualisierung, zwanzig Schicksale von Menschen, die im deutschen Faschismus als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgt und mehrheitlich ermordet wurden. Besonders ist dabei, dass die Nachkommen der Verfolgten die Geschichten ihrer Familienmitglieder selbst und in eigenen Worten schildern. So wird den Leser_innen nicht nur begreifbar, wie schwer und kompliziert sich die Recherche zu den verfolgten Familienangehörigen häufig gestaltete, sondern auch, wie wirksam und mächtig die Mechanismen der Stigmatisierung bis heute sind. Die Lektüre gerät daher doppelt berührend: Einmal durch die Schilderung der grausamen Schicksale und dann durch die Feststellung, dass die fehlende Anerkennung der Opfer die Erfahrung der Nachfahren bis heute fragmentiert und teils sogar in offene Brüche in den heutigen Familien führt. Doppelt berührend weiterlesen »

»Der Satz ist mehr als eine Lüge«

4. Juli 2024

Die NS-Devise »Arbeit macht frei«. Ein Gespräch mit Nikolas Lelle

antifa: Du hast jüngst den Band »›Arbeit macht frei‹. Annäherungen an eine NS-Devise« im Berliner Verbrecher Verlag veröffentlicht. Wie entstand die Idee dazu?

Nikolas Lelle: Ich habe mich schon in meinem vorherigen Buch »Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe« mit dem Topos deutsche Arbeit und der Behauptung beschäftigt, es gäbe eine ganz besondere Beziehung von Deutschen zur Arbeit. Ich hatte mir das vor allem unter dem Gesichtspunkt angeschaut, wie das die Nazis für sich nutzten, radikalisierten und damit Politik machten. In der Beschäftigung mit diesem Buch habe ich gemerkt, dass über diese KZ-Devise »Arbeit macht frei« wenig nachgedacht wird und es kaum Veröffentlichungen dazu gibt. Diese Lücke will ich mit dem Buch schließen und eine ganz spezifische Interpretation liefern, die sagt, der Satz ist mehr als eine KZ-Devise, nämlich eine nationalsozialistische Devise. »Der Satz ist mehr als eine Lüge« weiterlesen »

Für die Nachwelt

geschrieben von Janka Kluge

4. Juli 2024

»Wichtiger als unser Leben«: Band zum Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos

Das NS-Dokumentationszentrum München hat gemeinsam mit dem in Warschau angesiedelten Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum eine Ausstellung zum Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos erstellt. In München war die Ausstellung bis Januar zu sehen, derzeit ist nicht absehbar, ob sie noch in anderen deutschen Städten Station machen wird. Zur Schau ist jedoch ein kleines Buch »Wichtiger als unser Leben« entstanden.

Geheimes Ziel

Das Buch eignet sich außergewöhnlich gut als Einführung in das Ringelblum-Archiv des Warschauer Ghettos. Emmanuel Ringelblum war ein Historiker und Pädagoge. In seinem in Jiddisch verfassten Tagebuch hatte er täglich notiert, was aus seiner Sicht im Ghetto geschehen ist und was neu ins Ghetto verschleppte Jüdinnen und Juden berichtet haben. Bereits kurz nach der Errichtung des Ghettos gründete er eine Organisation, die im Geheimen mit dem Ziel wirkte, die Ereignisse im Ghetto für die Nachwelt zu dokumentieren. Der Gruppe »Oneg Schabbat« (Freude am Sabbat) gehörten zeitweise über ein Dutzend Menschen an. Die Mitglieder der Gruppe arbeiteten in der »Jüdischen Sozialen Selbsthilfe«. Hier wurden die Hilfsleistungen für tausende jüdische Menschen organisiert. Viele der Mitglieder kannten sich bereits von früher. Sie waren in der Poale-Zion-Linkspartei oder der Yehudiyah-Schule, an der Ringelblum unterrichtete. Für die Nachwelt weiterlesen »

Ein Gesicht geben

geschrieben von Eva Petermann

4. Juli 2024

Forschungsarbeit über Nürnberger NS-Zwangsarbeiterkinder und das Schicksal ihrer Mütter erschienen

Dass Kinder die Hauptleidtragenden eines Krieges sind, wird gern verdrängt. In einer exemplarischen Forschungsarbeit über Nürnberger Zwangsarbeiterkinder im Zweiten Weltkrieg und das Schicksal ihrer Mütter – und, soweit möglich, ihrer Väter – geht Gabi Müller-Ballin den Spuren von 400 Kindern nach. Die Diplompolitologin legt in diesem Buch biografische Daten von 321 Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern vor.

Zu ihnen gehören die im Titel genannten: Andreas, Sohn einer jungen Polin, das Mädchen Lubov, Tochter einer Landarbeiterin aus der Ukraine, und Baby Jacques, dessen Mutter Französin ist. Die drei Namen verweisen überdies auf die von der Wehrmacht okkupierten Länder, aus denen planmäßig Arbeitssklaven für die Industrie Nazideutschlands deportiert wurden. Quasi nebenbei erhalten wir also einen beklemmenden Eindruck von der zeitweise schier grenzenlosen Ausdehnung der Besatzung und wichtige Hinweise auf den jeweiligen Kriegsverlauf. Seit Jahrzehnten forscht die Autorin (Jahrgang 1954) über NS-Verbrechen in Nürnberg. Ein Gesicht geben weiterlesen »

»Ob dieser Inspiration«

4. Juli 2024

»Begegnungen« mit Erich Mühsam. Ein Gespräch mit Isabel Neuenfeldt

antifa: Du bist seit 20 Jahren auf literarisch-musikalischen Veranstaltungen zum Wirken von Erich Mühsam zu hören. Wie kam es dazu?

Isabel Neuenfeldt: Vielleicht beginne ich erst mal damit, wo Mühsam überhaupt keine Rolle spielte: Als junger Mensch hatte ich von Erich Mühsam gar nichts gehört. Im Deutsch- und Geschichtsunterricht hatte er in meiner Schullaufbahn keinerlei Erwähnung gefunden – dieser große Dichter, Schriftsteller und Kämpfer für die Menschlichkeit.

Anfang der 1990er, noch ganz frisch in Berlin und auf Wohnungssuche, war ich dann mal ganz unbedarft zu einer Besichtigung in die Friedrichshainer Mühsamstraße geradelt. Noch immer war »mühsam« für mich nur ein Adjektiv. An der Ecke Sorgestraße erschien mir der Kiez doch recht trostlos. Zu meiner Entschuldigung kann ich anfügen: Damals gab es noch nicht die erläuternden Schildchen unterhalb der Straßennamen an den Ecken. »Ob dieser Inspiration« weiterlesen »

Kein »Bien venuta«

geschrieben von Axel Holz

4. Juli 2024

Rocco Artale: Vom Arbeitsmigranten zum Ehrenbürger

Fast 13.000 sogenannte italienische Gastarbeiter wurden zu Beginn der 1960er-Jahre auf Basis eines deutschen Anwerbeabkommens mit Italien als Arbeitskräfte für die VW-Werke in der BRD rekrutiert. Es folgten tausende weitere Arbeitsmigranten, aber nur etwa 3.000 der insgesamt 34.600 Italiener blieben bis 1975 in Wolfsburg. Was war schiefgelaufen bei der Arbeitskräfteanwerbung?

Auch heute in Debatten aktuell

Darüber berichtet der ehemalige »Gastarbeiter« Rocco Artale in seiner Biografie, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Wolfsburger Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation. Die Erfahrungen, die er gesammelt hat, spielen auch in der heutigen Migrationsdebatte eine Rolle – sowohl die damaligen Fehler als auch die positiven Integrationsbestrebungen in Wolfsburg. »Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen«, kommentierte Max Frisch die Arbeitsmigration seit Beginn der 1960er-Jahre. Kein »Bien venuta« weiterlesen »

Wohin jetzt?

geschrieben von Benet Lehmann

4. Juli 2024

Vorabdruck des Kapitels »Sieben Frauen« aus »Esthers Spuren«

Das Paket schnürt Esther in die Schulter, sie ist müde. In den letzten Nächten hat sie kaum geschlafen. Der Fliegeralarm, ausgelöst durch die Bomber der Alliierten, hat ihr keine Ruhe gelassen. Weil die Sirenen unerträglich laut sind. Weil sie ankündigen, dass die Front näher rückt. Weil das alles bedeutet, dass die Deutschen den Krieg verlieren. Esther kann ihre Freude darüber kaum verbergen.

Sie setzt einen Fuß vor den anderen, vor und hinter ihr läuft die Kolonne, an der Seite die SS. Anfangs sind sie noch in Reihen gegangen, jetzt drängt sich alles. Auf mehrere hundert Meter erkennt sie die Kolonnen aus Gefangenen in gestreifter Kleidung. Wie viele Menschen in Ravensbrück inhaftiert waren, realisiert sie erst jetzt. Ein Gefühl der Ohnmacht durchdringt sie, steigt von ihren Füßen bis zu ihrem Kopf auf.

Von Osten naht die Rote Armee, von Westen die U. S. Army. Panik bricht unter den SS-Wachmannschaften aus. Sie vernichten die Beweise ihrer Taten und folgen Himmlers Befehl, die Lager zu »evakuieren«. Ein Euphemismus, der sich nach Rettung anhört, in der Realität aber den Tod für abertausende Menschen in den letzten Kriegstagen bedeutet. Das geplante Massenmorden des nationalsozialistischen Deutschlands ist zu diesem Zeitpunkt bereits vorbei. Doch wer hinfällt, wer nicht mehr laufen kann, wird erschossen. Die Wachen haben die Art des Tötens an die Begebenheiten angepasst. Wohin jetzt? weiterlesen »

Flucht nach vorn

geschrieben von Selina Arthur

4. Juli 2024

Plädoyer für Antifaschist:innen: Solidarität, die Sorge füreinander als politisches Programm

Die Ergebnisse der Europa- und Kommunalwahlen sind bitter – mancherorts liegt die AfD bei 40 Prozent, andernorts hat sie mehr Sitze gewonnen, als sie überhaupt KandidatInnen aufgestellt hatte. Trotz desaströser Wahlkampagne ein Erfolg auf ganzer Linie für die Rechten. Nun kann man sich als Linke:r unterschiedlich trösten. Absolut notwendig ist vor allem, sich von den Zyniker:innen fernzuhalten. Auch exzessives Selbstmitleid ist mit Vorsicht zu genießen. Im Großen und Ganzen hilft, was immer gegen gebrochene Herzen hilft: Sich von Social Media fernhalten und der Wahrheit ins Auge sehen.

Seit Jahrzehnten macht die politische Linke der breiten Bevölkerung Avancen, Angebote und Liebesschwüre. Doch die macht lieber mit irgendwelchen menschenfeindlichen Brutalos gemeinsame Sache, die sich für ihre politischen und wirtschaftlichen Belange nicht die Bohne interessieren. Da kann man noch so laut fordern, dass es weniger trans Menschen auf der Welt geben soll (Sahra Wagenknecht), noch so viele Abschiebungen durchsetzen (Olaf Scholz), gegen das Original von rechts kommt man nicht so leicht an. Flucht nach vorn weiterlesen »

Suche nach Antworten

geschrieben von Peps Gutsche

4. Juli 2024

Bombenattentate in Südtirol und die frühe Bundesrepublik

Wie ist es, den verstorbenen Vater als Rechtsterroristen kennenzulernen? Wie konnte dieser wie weitere Täter straffrei bleiben? Und welche Rolle spielte die DDR in der Thematisierung rechter Gewaltakte in Südtirol?

Traudl Bünger begibt sich in ihrem Buch akribisch auf die Suche nach Antworten und begegnet dem titelgebenden »Eisernen Schweigen« ihres Vaters mit einer vierjährigen Archivrecherche, bei der sie auch den Verhandlungsunwillen der damaligen Bundesrepublik in den Blick nimmt.

Entstanden ist dabei ein Buch, das zwei Zeitstränge verfolgt und diese immer wieder miteinander verbindet: zum einen die Recherche, die mit dem Fund von zu Zeitzündern präparierten Taschenuhren und einer Ausgabe von »Die Auschwitzlüge« auf dem Dachboden 2019 beginnt und dem Papierpfad mit über 60.000 Seiten Akten, Zeugenbefragungen, Polizeiermittlungen und Behördenkorrespondenzen durch Deutschland, Österreich und Italien bis in das Jahr 2023 folgt. Zum anderen die Entwicklung des Chemiestudenten Heinrich Bünger, der 1957 gemeinsam mit seinem Bruder Fritz den Bund Nationaler Studenten gründete und mehrere Bombenattentate in Südtirol plante und durchführte. Bei einem davon stirbt am 20. Oktober 1962 Gaspare E. in Verona. Suche nach Antworten weiterlesen »

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