Alte Wahrheiten, neue Fragen

geschrieben von Phillip Becher und Jürgen Lloyd

5. September 2013

Gedanken zum Faschismus als Form bürgerlicher Herrschaft

Juli-Aug. 2012

Dieser Beitrag ist eine Erwiderung auf Mathias Wörschings Artikel über »Faschismus als Ideologie« in der Mai/Juni-Ausgabe der antifa.

Phillip Becher studiert Sozialwissenschaften an der Universität Siegen. Jürgen Lloyd arbeitet als IT-Berater in Krefeld und ist Mitglied im Vorstand der Marx-Engels-Stiftung.

Lesetipp: Reinhard Opitz‘ Studie über »Faschismus und Neofaschismus« (letzte Auflage 1996)

Der Enthusiasmus über aktuelle Theoriestränge, die scheinbar den Faschismus beim Namen nennen, ist auf den ersten Blick nachvollziehbar. In der Tat lassen sich die Veröffentlichungen der Vertreterinnen und Vertreter dieser »neueren« Faschismusforschung, auf die sich Mathias Wörsching bezieht, mit Erkenntnisgewinn lesen. So halten die materialreich fundierten Studien Zeev Sternhells über die Frühgeschichte des italienischen Faschismus interessante Ergebnisse bereit, obschon sein Verständnis des Faschismus als »antimaterialistischer Revision des Marxismus« mehr als fragwürdig erscheint. Dieser Enthusiasmus darf also ebenso wenig über ebensolche Schwächen dieser Denkschule hinwegtäuschen, wie er die Stärken der »alten« oder »klassischen« Denkansätze in der Faschismusforschung vergessen machen sollte.

Mathias Wörsching stellt die Frage, »wieso sich unter Umständen ganze Massen der Bevölkerung den Faschisten anschließen« und verdeutlicht, dass seiner Meinung nach die »alten« Faschismustheorien hierauf keine Antwort gäben. Nimmt man jedoch zum Beispiel das erste Kapitel von Reinhard Opitz‘ Studie über »Faschismus und Neofaschismus« (letzte Auflage 1996) zur Frage der »Entstehung der ‚völkischen‘ Richtung im politischen Kräftespektrum der bürgerlichen Gesellschaft« zur Hand, findet man eine mustergültige, im besten Sinne ideologiekritische Darstellung und Analyse: Im Zuge des Übergangs vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entsteht ein von Opitz skizzierter Ideologiebedarf, der zwar an subjektive Bewusstseinslagen bei den Beherrschten (insbesondere den Mittelschichten) anknüpft, jedoch Ausfluss originärer Kapitalinteressen ist. So bringt die kapitalistische Gesellschaftsstruktur gleichermaßen den Widerspruch gegen unsoziale Zustände hervor, der sich in einem linken und einem rechten Protestpotential äußern kann, wobei letzteres mit dem bürgerlichen Ideologiebedarf kompatibel ist, bzw. übereinstimmt: »In Rebellion gegen die richtig als ungerecht empfundenen Verhältnisse, aber den Kopf vollgefüllt mit der Ideologie der Herrschenden, äußert sich der Protest als Protest gegen das linke Protestpotential und als Anklage gegen die Herrschenden, die als unbefriedigend empfundenen Verhältnisse dadurch verursachen, weil sie nicht hart genug mit dem anderen Protestpotential« verfahren würden, wie sich Opitz 1969 ausdrückte. Sowohl die inhaltlichen Ausprägungen faschistischer Ideologie als auch ihre Wirksamkeit werden so (auf Basis des »alten« Faschismusverständnisses) als Ergebnis des grundlegenden Herrschaftsdilemmas des Monopolkapitals erklärt.

Auch die in Wörschings Ausführungen mitschwingende Vorstellung des Faschismus als einer autonomen Bewegung »von unten« muss, angesichts der Faktenlage in Kurt Gossweilers jüngst neuaufgelegter Studie zur Frühgeschichte der faschistischen Partei Deutschlands »Kapital, Reichswehr und NSDAP« (siehe Besprechung auf S. 26) zurückgewiesen werden.

Zum Schluss sei darauf verwiesen, dass sich das Verständnis vom Faschismus als einer Form der bürgerlichen Herrschaft nicht als Ergebnis einer von Stalin befohlenen Dogmatisierung, sondern im Gegenteil als Resultat eines langjährigen Diskussionsprozess in der Arbeiterbewegung entwickelte. Im Rahmen dieser Diskussion, deren Verlaufslinien im Beitrag Elfriede Lewerenz‘ zum 1980 herausgebrachten Sammelband »Faschismusforschung« nachvollzogen werden können, lösten sich verschiedene, durch die Realität gewonnene und an der selbigen geprüfte, Begriffe ab, an deren Endpunkt die als »Dimitroff-Formel« bekannt gewordene Definition des Faschismus stand, die ihn als terroristische Form monopolkapitalistischer Herrschaft verstand, die die Arbeiterbewegung und alle demokratischen Kräfte der Unterdrückung und Vernichtung aussetzt. Faschismus ist eben nicht lediglich eine Ideologie, sondern eine Form bürgerlicher Herrschaft. Antifaschistisches Handeln kann sich deshalb auch nicht darauf beschränken, eine Ideologie zu bekämpfen, sondern muss den bewussten Zusammenschluss aller befördern, die ein Interesse daran haben, nicht unter faschistischen Herrschaftsverhältnissen zu leben.